Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
können von den körperlichen oder geistigen Grenzen des Menschen und daher weniger Gefahr laufen, in konturloser, illusionärer Grenzenlosigkeit ihr Leben zu verplempern. Sie spüren ihre Grenzen und den Puls des Lebens, der in jedem Moment an diese Grenzen pocht. Dabei hat jeder Mensch Grenzen. Er sieht schlechter als der Adler, hört schlechter als der Hund und hat einen gröberen Geruchssinn als der Schmetterling. Ein Mängelwesen hat man den Menschen sogar genannt. Doch das allgemeine Bewusstsein verdrängt die Grenzen und sonnt sich in der Illusion grenzenloser Möglichkeiten. Die Wirklichkeit verpasst es damit. In grenzenloser Naivität jubiliert der biedere Famulus: »Wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.« – »Ja bis zu den Sternen weit!«, höhnt ihm Faust entgegen.
Die größere Farbigkeit und Intensität der körperlich und geistig behinderten jungen Menschen ist es wohl vor allem, was die nichtbehinderten jungen Leute an der Gruppe »Brücke-Krücke« reizt. Sie erleben den Umgang mit Behinderten als Bereicherung. Ein Helfersyndrom voller angestrengter und lustloser, verklemmter Betulichkeit hat niemand von ihnen. Dass sie dabei ganz unbeabsichtigt mehr Humanität lernen, ist ihnen wahrscheinlich nicht bewusst. Aber keiner von ihnen wird wohl in seinem künftigen Leben Menschen wegen Normabweichung oder mangelnder Leistung verachten. Niemand wird bestreiten, dass die Behinderung eines Familienmitglieds auch eine Last für die Familie sein kann. Gleichzeitig kann man aber immer wieder feststellen, dass gerade behinderte Menschen Mittelpunkt der Vitalität einer Familie sind und Zentrum der Sorge, die nach dem Philosophen Martin Heidegger eine Eigenschaft ist, die den Menschen geradezu zum humanen Wesen macht.
Das Erlebnis, für einen Menschen zu sorgen, kann sogar solchen Menschen, die nichts zu tun haben mit dem christlichen Glauben, die christliche Haltung, vor allem den Schwachen und Armen zu dienen, unmittelbar plausibel machen. Gewiss, auch für diese Einstellung gilt die Anfrage Max Horkheimers: »Warum soll ich gut sein, wenn es keinen Gott gibt?« Aber das Erlebnis der Sorge hat die Kraft der Wirklichkeit, ist keine theoretische Abstraktion, und es hat Menschen gegeben, die aus der unmittelbaren Evidenz der Sorge um einen anderen Menschen den Glauben an Gott gefunden haben. Das Eigentliche der Humanität kann man nicht durch Leistungstests berechnen, aber erleben kann man es in der sorgenden Beziehung zu wirklichen Menschen. Die Betrachtung des Menschen unter Leistungskriterien ist allerdings eine gängige Abstraktion, die sich tagtäglich mit großer Kraft aufdrängt: das ganze Leben als Abfolge von Prüfungen, Tests und Zeugnissen. Dabei gerät dann auf gefährliche Weise aus dem Blick, dass in Wirklichkeit zwischen Bankdirektor und Clochard keinerlei Unterschied besteht im Entscheidenden, nämlich in der Menschenwürde. Wenn der Irrtum, den Menschen über abstrakte Leistung zu definieren, Plausibilität gewinnt, ist das Menschenbild des Peter Singer, dem der findige Schimpanse schützenswerter ist als der schwer behinderte oder demente Mensch, nicht abwegig, sondern konsequent.
Die sichtbare Präsenz von Behinderten in unseren Gesellschaften ist daher die denkbar beste Erinnerung an die Menschenrechte jedes Menschen. Und auch daran, dass die papiernen Erkenntnisse von Tests nichts aussagen über das, was der Mensch als Ganzer bedeutet. Damit wird klar, dass die leichtfertigen Utopien einer unbehinderten Welt Horrorvisionen sind, denen wirkliche Humanität abhanden gekommen ist. Niemand wird einem einzelnen Menschen eine Behinderung wünschen, aber für die Gesellschaft insgesamt müssen wir hoffen, dass sie immer auch reich an Behinderten ist, die an das Eigentliche erinnern, auf dass die Menschen nicht an ihrer sterilen und kalten Normalität ersticken.
Der Gesichtspunkt, dass Behinderung auch eine Fähigkeit sein kann, ist daher so abwegig nicht, wie er im ersten Moment klingt. Jedes menschliche Leben beginnt ja behindert. Der Säugling und das Kind sind in gewisser Weise behindert, denn sie sind rund um die Uhr auf die Sorge anderer Menschen angewiesen. Aber gerade da, wo Kinder sind, füllen Vitalität und Lebenslust den Raum. Vielleicht könnte man diese Fähigkeit der Kinder einmal nutzen, indem man bei Friedensverhandlungen immer zwei Kleinkinder der verfeindeten Parteien zwischen den Delegationen spielen lässt. Möglicherweise würden sie den sachlichen Ablauf
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