Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Erickson nachzutun. Sie versuchten eine letzte Theorie der »Methode Erickson« zu finden. All diese Bemühungen sind weitgehend gescheitert, denn es gibt sie nicht, die »Methode Erickson«, es gibt hundert Methoden, die der Mann aus Phoenix (Arizona, USA) anwandte. Und sie entsprangen nicht einer Theorie, sondern der konkreten Praxis. Wem sich die Welt so konkret aufdrängt wie einem behinderten Menschen, der kann die konkrete Situation vielleicht auch ernster nehmen – und sie dann nutzen, ohne sich durch illusionäre Ziele abzulenken.
Es gibt aber gleichfalls große Theoretiker im Rollstuhl. Stephen Hawking ist der vielleicht faszinierendste theoretische Physiker unserer Zeit. Er sitzt, seines Körpers nicht mehr mächtig, verkrümmt in seinem Rollstuhl und kann sich nur durch einen Apparat mit einer monotonen künstlichen Stimme verständlich machen. Doch souverän beherrscht er von seinem engen fahrbaren Lehrstuhl aus das zeitgenössische physikalische Weltbild. Tag für Tag verspottet bei ihm die fast grenzenlose Beweglichkeit des Geistes die hilflose Unbeweglichkeit des Körpers. Seine Behinderung entzog ihm rigoros die Praxis. Dadurch konzentrierte er alle seine Kräfte auf die Theorie und wurde der Virtuose der theoretischen Physik.
Das sind gewiss spektakuläre Fälle, aber jeder, der wach durchs Leben geht, kann die bemerkenswerten Fähigkeiten der vielen unauffälligen Behinderten in unseren Gesellschaften beobachten. Man muss wohl damit rechnen, dass eine Gesellschaft ohne Behinderte auch weniger leistungsfähig wäre, von Phantasie und Lust am Leben ganz zu schweigen.
Vielen Menschen sind die Perioden ihres Lebens, in denen sie behindert waren, besonders wertvoll. Gerade die Kindheit, in der man an einem autonomen Leben gehindert und auf umfassende Fürsorge angewiesen ist, erscheint vielen in goldenem Glanz. Das hat sicher damit zu tun, dass das Kind noch nicht so eingeengt ist auf Denk- und Verhaltensmuster, die für ein nach allgemeinem Urteil gelingendes Leben notwendig sind. Der intensive Genuss der Gegenwart und das ungehemmte Walten der Phantasie geben der Lebenslust weiten Raum. Umso schmerzlicher sind die Einschränkungen kindlicher Unbekümmertheit, und der goldene Glanz der Erinnerung überstrahlt oft die Entbehrungen. Das spätere Auftreten einer Behinderung wird wohl immer als leidvolle Erfahrung erlebt. Aber im Nachhinein berichten viele Menschen, dass sie, plötzlich herausgeworfen aus dem Trott unbehinderten, aber eintönigen Funktionierens, zum ersten Mal seit langem sich wieder selbst gespürt hätten als ein Wesen mit eigenen Zielen, mit einem unverwechselbaren Lebensweg. Über den Sinn dieses Lebens hatten sie sich schon lange keine Gedanken mehr gemacht, weil es auch nicht nötig war. Sie waren Getriebene des eigenen Lebens geworden. Andere hatten entschieden, wohin die Reise ging. Die Behinderung warf sie aus der vorgezeichneten Lebensbahn. Sie mussten neu entscheiden und vor allem – trotz aller Abhängigkeiten –: sie mussten selbst entscheiden.
2. Krankheit als Glücksfall oder wie jemand lernte, die Bombe zu lieben
Damit wären wir bei der Krankheit als Chance. Denn Krankheiten stellen in der Regel keine dauerhafte Beeinträchtigung des Lebens dar wie Behinderungen, sie brechen vielmehr – oft ganz plötzlich – herein ins Leben. Wie also könnte man solche Unfälle des Lebens als Glücksfälle betrachten? Um auch hier gleich Missverständnisse zu vermeiden: Krankheit ist für den einzelnen Menschen zunächst einmal eine Last und man wünscht niemandem eine Krankheit. Ein Leben ohne Krankheit gibt es aber nicht. Und da ist es legitim, der Frage nachzugehen, ob diesem unausweichlichen Schicksal auch Positives abzugewinnen ist.
Die Antike kannte einen »morbus sacer«, eine heilige Krankheit. Auf den ersten Blick scheint es völlig absurd, eine Krankheit als heilig zu verehren. Doch die Antike vollzog noch nicht die strengen Unterscheidungen, die uns heute oft den Blick für die Wirklichkeit trüben. Und so war auch die Krankheit zunächst einmal ein außergewöhnlicher Zustand, der sich im Leben eines Menschen ereignete. Der Automatismus, nicht normale Zustände sofort als Defizite abzubuchen, war der Antike fremd. Ein großer epileptischer Anfall ist für den Außenstehenden ein elementares Ereignis. Schlagartig wird ein Mensch aus vollem Bewusstsein davon ergriffen, schlägt auf den Boden, verkrampft sich rhythmisch, bleibt einige Minuten bewusstlos, wacht aus
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