Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
etwas stören. Doch der Anblick eines Kindes würde das Wesentliche für Friedensverhandlungen, nämlich das Gebot der Menschenliebe, das im Herzen jedes Menschen verborgen ist, wohl wirksamer lebendig machen als das Gegenüber lediglich eines schlecht gelaunten, schwitzenden, Krawatte tragenden Verhandlungspartners.
Viele Beispiele gibt es für die These »Behinderung als Fähigkeit«. Besonders faszinierend sind die alten Darstellungen Homers, des größten Dichters der antiken Welt. Das weise und schöne alte Haupt ist leicht erhoben und schaut eigentümlich und geheimnisvoll in die Ferne. Das Bild des Sehers schlechthin, der sieht, was andere nicht sehen. Was ist das Geheimnis dieses Gesichts? Das Geheimnis der Darstellung des Sehers Homer ist – Homer war blind! Es stellt einen der Höhepunkte der antiken Kunst dar, wie hier mit äußerster Feinsinnigkeit die Blindheit als Fähigkeit dargestellt wird, weiter und tiefer zu sehen.
Demosthenes galt als der größte Redner des antiken Griechenland. Mitreißend und mit allen Mitteln der Rhetorik gelang es ihm, die Athener zu fesseln, was nach den späteren Erfahrungen des heiligen Paulus gar nicht so einfach war. Was befähigte Demosthenes zu seiner Rednerkunst? Eine Behinderung! Und keineswegs eine Behinderung, die für einen Redner belanglos war. Demosthenes hatte eine schwere Sprachbehinderung. Interessant ist, was Demosthenes dagegen unternahm. Er verstärkte die Behinderung, indem er Steine in den Mund nahm und am Strand gegen das Rauschen des Meeres anbrüllte. Damit bewältigte er seine Sprachbehinderung, machte aus dem Sprechen eine Fähigkeit und wurde zum gefeiertsten Redner seiner Zeit.
Die unterschiedlichsten Interpretationen hat das erfahren, was der Apostel Paulus zwar plastisch, aber etwas unklar im 2. Brief an die Korinther seinen »Stachel im Fleisch« nannte. Als dauernde Behinderung jedenfalls hat es der Apostel erlebt, als eine Behinderung allerdings, die ihn im Wortsinne anstachelte zu seinem enormen Engagement für die Verbreitung des christlichen Glaubens.
Es ist gewiss eine besondere Tragödie gewesen, dass Ludwig van Beethoven, einer der genialsten Komponisten, im Alter taub wurde. Dennoch hat er weiter komponiert und einer für ihn verstummenden Welt Klänge vermittelt, die die Menschen bis heute die Ewigkeit ahnen lassen. Gerade die späten Symphonien, die er selbst kaum mehr hören konnte, gehören zu seinen ergreifendsten Schöpfungen. Vielleicht war es die schmerzlich erlebte Grenze seiner Taubheit, die seiner Feder eine Musik entlockte, die das Jenseits aller Grenzen, die Transzendenz, erlebbar macht.
Der heilige Pfarrer von Ars hatte eine massive Lernbehinderung, die ihn beinahe am Studium scheitern ließ, so dass er nur mit Hängen und Würgen Priester werden konnte. Doch er wurde einer der berühmtesten Beichtväter. Auch hier kann man die These vertreten, dass es möglicherweise gerade seine Behinderung war, die ihn zum einzigartigen Seelenführer befähigte. Denn wer Schwierigkeiten hat, sich dauerhaft Dinge einzuprägen, der lebt intensiver in der Gegenwart und in der gegenwärtigen Begegnung mit Menschen. Nicht das theoretische Wissen, sondern die praktische seelsorgliche Zuwendung in der Vermittlung der Gegenwart Gottes im Sakrament prägten den berühmten Pfarrer von Ars.
Der amerikanische Präsident Roosevelt war auch behindert, was aus Diskretion von den Medien allerdings nicht gezeigt wurde. Gerade er, der als Rollstuhlfahrer in seiner Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt war, war Vorkämpfer der Freiheit gegen eine Welt von Tyrannen.
Auch der schon erwähnte berühmteste amerikanische Psychotherapeut des 20. Jahrhunderts, Milton Erickson, war schwer behindert. Er litt an Kinderlähmung und anderen Einschränkungen, saß im Rollstuhl und war daher darauf angewiesen, Menschen ganz genau zu beobachten, hilfreiche von weniger hilfreichen Situationen zu unterscheiden und immer wieder Lösungen für Probleme zu finden. Lösungen sind für einen bewegungsbehinderten Menschen aber immer schon rein räumlich fern liegend und schwer zu erreichen. Milton Erickson machte aus der Not eine Tugend und nutzte das, was für einen Behinderten am nächsten liegt, für die Lösung. Und was für einen Behinderten am nächsten liegt, ist – sein Problem. Die geniale Methode Milton Ericksons war die Nutzung, die »Utilisierung«, des Problems für die Lösung. Bis heute versuchen Psychotherapeuten in aller Welt, es dem genialen
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