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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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dem Zustand auf und hat danach keinerlei Erinnerung daran, was mit ihm geschehen ist. Die Menschen der Antike nahmen an, dass während dieses Zustands der Kranke in unmittelbarem Kontakt mit der Gottheit stand. Daher die Ehrfurcht. Wer an Epilepsie, der heiligen Krankheit, litt, dem brachte man einen etwas furchtsamen Respekt entgegen. Daher war diese Krankheit fast eine Karrierechance. Gaius Julius Cäsar war Epileptiker.
    Auch später wurde das Außergewöhnliche oft als heilig geachtet. Manche Heilige der katholischen Kirche waren ziemlich merkwürdig. Gewiss reichte Merkwürdigkeit nicht aus, um heilig zu werden. Aber es waren oft gerade die außergewöhnlichen Eigenschaften der Heiligen, die sie so volkstümlich machten. Und das nicht nur bei Katholiken. Johann Wolfgang von Goethe, den Katholiken sonst nicht sehr zugetan, reserviert voller Begeisterung zehn Seiten seiner »Italienischen Reise« einem der merkwürdigsten Heiligen der katholischen Kirche, dem heiligen Philippus Neri. Die Auffälligkeiten, die dieser Mann zeigte, würden heutzutage rein formal allemal für eine anständige psychiatrische Diagnose ausreichen. Das spricht allerdings nicht gegen den damaligen heiligen Philipp, sondern eher gegen die heutige Diagnostik. Damals fühlte man sich durch psychische Auffälligkeiten wie die des Philippus Neri weniger gestört als vielmehr angeregt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, bei ihm eine krankhafte Störung zu diagnostizieren. Der heilige Philipp wurde als geliebte Bereicherung erlebt. Eine solche gesellschaftliche Einstellung machte das Leben unterhaltsamer und abwechslungsreicher als in unseren ordnungswütigen Zeiten – sowohl für die außergewöhnlichen wie für die gewöhnlichen Menschen.
    Die Römer jedenfalls waren ganz vernarrt in ihren heiligen Philipp. Wo Philipp war, war Lebenslust. Er strahlte eine heitere christliche Fröhlichkeit aus. Zu jedem Unsinn war er bereit. Alle Konventionen sprengte er. Zeigte sich irgendwo die päpstliche Schweizergarde, blickten die Römer schon umher, wo denn wohl Philipp sei. Dann trat er auf, bohrte sich mit einer Hellebarde in der Nase oder zog einen Gardisten am Bärtchen. Nichts war normal an diesem Heiligen und mit dieser Eigenartigkeit, gepaart mit einer tiefen Frömmigkeit, begeisterte er vor allem die jungen Leute, die zu Scharen in seinen Orden eintraten. Bald kam er in den »Geruch der Heiligkeit«, wie es so schön heißt. Hans-Conrad Zander beschreibt, wie der heilige Philipp dessen gewahr wurde. Eines Abends spricht den Stadtstreicher Gottes unter einer römischen Brücke, wo der Heilige bisweilen zu nächtigen pflegte, tief erschüttert sein Mitclochard, der heilige Felix von Cantalice, an. Etwas Schreckliches habe er gehört, etwas ganz Furchtbares. Besorgt und mitfühlend wendet sich Philipp ihm zu. Es sei etwas, das sie beide betreffe, fährt der heilige Felix von Cantalice fort, es sei entsetzlich, man halte sie für heilig. Nun ist auch Philipp erschüttert. Tief beunruhigt beratschlagen die beiden merkwürdigen Gestalten unter der römischen Brücke, wie man wohl am besten einen solchen Ruf loswerden könne. Am besten durch Rufmord. Noch besser durch Rufselbstmord. Kurz entschlossen betrinken sich beide hemmungslos und ziehen grölend und randalierend eine ganze Nacht durch Rom. Doch wie kaum anders zu erwarten: Die Sache ging schief. Die Römer aber hatten nur eine weitere Geschichte über den heiligen Philipp. Und die erzählen sie alle bis heute. Der heilige Philipp hat die Menschen nicht trotz seiner Merkwürdigkeit und Verrücktheit begeistert, sondern wegen seiner Merkwürdigkeit und Verrücktheit. Die originellen Faxen, die Philippus Neri machte, ließen eine systematische Lehre kaum zu. Dennoch wurde er von seinen Fans gefragt, was er denn tun würde, wenn er ein ganz schwieriges Problem hätte, das er überhaupt nicht lösen könne. Prompt kam die Antwort: »Wenn ich ein ganz schwieriges Problem habe, das ich überhaupt nicht lösen kann, dann überlege ich mir, was in dieser Situation Ignatius von Loyola tun würde – und dann tue ich das Gegenteil.« Dass die katholische Kirche ausgerechnet diese beiden am gleichen Tag heilig gesprochen hat, bestätigt, dass sie Humor hat und dass man im Himmel und daher auch auf Erden nicht immer einer Meinung sein muss.
    Dem heiligen Ignatius von Loyola, dem hochverehrten Gründer des Jesuitenordens, fehlte die virtuose Leichtigkeit des heiligen Philipp. Sein Leben führte nicht

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