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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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ergreifende Werke geschaffen haben. Die äußerste Intensität der Gemälde Vincent van Goghs scheint keineswegs trotz, sondern wegen seiner psychischen Störung so außergewöhnlich einprägsam. Der Marientod des Hugo van der Goes in Brügge erreicht die erschütternde Stimmung resignativer, tiefer, tränenloser Trauer in den Gesichtern der fahlen Gestalten wohl am ehesten aufgrund der schweren Depression, unter der der Künstler litt. Auch bei manchem Dichter zeigte sich die psychische Krankheit als besondere kreative Fähigkeit, die das leidvolle Leben an der Grenze schenkt.
    Doch auch für ganz normale Menschen wird der Einbruch der Krankheit ins Leben oft zum Aufbruch ins dichtere, ins plastischere, ins bewusstere Leben. Ein Patient berichtete mir neulich, dass er einige Wochen zuvor plötzlich mit einer schweren Krankheit konfrontiert wurde. Er sei erschüttert gewesen, aber schlagartig seien ihm seine sonstigen Beschwerden völlig aus dem Blick geraten, er habe intensiver gelebt, sich für existenziell wichtige Fragen, insbesondere für Fragen des Glaubens wirklich interessiert. Als dann alles glücklich vorbei gewesen sei, habe ihn der Alltagstrott schnell wieder eingeholt. So eigenartig das klinge, er bedaure das eigentlich und sehne sich nach jenem intensiveren Zustand zurück. Manch ein Manager in den so genannten besten Jahren kann schon von einer mehr oder weniger banalen Krankheit aus der Bahn geworfen werden. Alles war bisher für ihn berechenbar, alles hatte zu funktionieren. Und nun erlebt er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, dass er selbst nicht mehr funktioniert, dass er für sich selbst unberechenbar geworden ist. Auch das kann eine Chance sein, wenigstens ganz kurz herauszutreten aus all den Funktionen, die jeder Mensch mit der Zeit übernimmt. Und Voraussetzung für echte Lebenslust ist, dass man nicht bloß Funktionär des eigenen Lebens, sondern in der Lage ist, persönlich zu leben. Das wirkt sich dann auf die ganze Familie aus. Ein Kranker in einer Familie kann eine schwere Last sein, aber eben oft zugleich den bergenden und wärmenden Zusammenhalt der Familie für alle besonders erlebbar machen. Das Außergewöhnliche gerade einer psychischen Erkrankung kann für den Menschen selbst, aber auch für seine Umgebung als Aufruf erlebt werden, das Eigentliche des Lebens in den Blick zu nehmen.
    Krankheit gehört zum Leben dazu, sie bringt schärfere Kontraste ins tägliche Einerlei der dahinlaufenden Zeit. Friedrich Nietzsche nennt sie sogar »ein Stimulans zum Leben, zum Mehrerleben«. Niemand wird Krankheit idealisieren. Ärzte haben die Pflicht, Krankheiten zu heilen, zu lindern oder erträglich zu machen. Wer die Krankheit aber bloß als bedauerliches Defizit wahrnimmt, der bleibt an der Oberfläche und dem entgeht die Tiefe und der volle Geschmack des Lebens.
    3. Schmerz als Hilfe oder warum das Zahnweh gepriesen wurde
    Der körperliche Schmerz ist vor allem ein wichtiges Zeichen für eine Krankheit. Der junge ärztliche Kollege, der einem Patienten mit Schmerzen zunächst einmal geschäftig ein Schmerzmittel spritzt und dann, im Krankenhaus angekommen, triumphierend auf das Lob des chirurgischen Oberarztes wartet, wird bitter enttäuscht werden. Eine Gardinenpredigt wird er sich anhören müssen. Denn mit dem Schmerz hat er das wichtigste Hinweissignal für die vorliegende Störung beseitigt. Schmerz ist also in vielen Fällen zunächst einmal ein Glücksfall, ein diagnostischer Glücksfall. Aber dennoch wird man natürlich niemandem Schmerzen wünschen. Und was um Gottes willen soll Schmerz mit Lebenslust zu tun haben? Wer den Schmerz lustvoll sucht, gilt zu Recht als nicht normal, als masochistisch gestört. Doch das Schwarzweißdenken bei der Beurteilung des Schmerzes – positives Diagnostikum oder negativer Masochismus – wird dem Phänomen nicht gerecht. Natürlich ist der Hospizbewegung zuzustimmen, die darauf hinweist, dass der Schmerz in der Sterbephase jeden Sinn verloren hat und daher professionell bekämpft und ausgeschaltet werden muss. Die moderne Schmerztherapie hat da beeindruckende Ergebnisse erzielt, so dass man in der Regel sagen kann, dass Tumor-Schmerzen bei fachlich korrekter Behandlung heute nicht mehr sein müssen. Aber man darf da nicht ideologisch werden. Rainer Maria Rilke hat vor seinem Tod in völliger Freiheit ausdrücklich auf Schmerzmittel verzichtet. Er wollte diese so wichtige Phase in seinem Leben ganz intensiv erleben. Niemand wird da

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