Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Masochismus am Werk sehen. Friedrich Nietzsche sagt sogar: »Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes.« Sigmund Freud hat in seinen späten Jahren beeindruckende Werke geschaffen – unter schlimmen Schmerzen seines Lippenkarzinoms. Das wird man nicht idealisieren, schließlich hat Freud sich am Ende umgebracht, aber dass die tiefere Sicht seiner späteren Schriften mit dem kaum erträglichen Schmerz zu tun hatte, wird man kaum bestreiten können.
Die christliche Bewältigung von Schmerzen kann man wohl am besten bei Therese von Lisieux (1873–1897) studieren. Diese junge Frau gehört zu den modernsten Heiligengestalten. Als man ihre Tagebücher las, war man in ihrem Orden so schockiert, dass man die Schriften nur geschönt der Öffentlichkeit präsentieren wollte. Das kitschige Bild der »kleinen Therese«, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschte, hatte mit dieser Korrektur zu tun. Dann entdeckte man das Original. Es war viel eindrucksvoller als das harmonisierte Kunstprodukt. Daraus wurde deutlich, dass die junge Frau – sie starb mit nur 24 Jahren an einer Tuberkulose – in ihren schlimmen Knochenschmerzen, die man damals nicht recht behandeln konnte, tiefe Düsternisse der Gottesferne erlitt. Aber gerade der durch die Qualen hindurch errungene, erneuerte, tiefe Glaube der heiligen Therese zeigt sie als früh gereiften, modernen Menschen, dem der Glaube nicht mehr selbstverständlich zufällt, sondern existenziell an den schmerzlichen Grenzen des Lebens persönlich erfahrbar begegnet. Durch den Schmerz hindurch strahlt Therese schließlich eine gelassene Heiterkeit aus. Und die speiste sich aus einer christlichen Lebenslust, die im intensiv erlebten Moment ewiges Leben spürbar werden lässt. Die Naivität von Thereses frühen Jahren weicht einer Weisheit, die gewiss nicht zuletzt der Erfahrung des körperlichen Schmerzes zu verdanken ist. Die Heiligsprechung Thereses und die jüngst erfolgte Ernennung zur »Kirchenlehrerin« fanden übrigens in Kenntnis der Originaltagebücher statt.
Es ist heute bekannt, dass das Schmerzerleben starken psychischen Einflüssen unterliegt. Manch einer nutzt den einen Schmerz, um sich von einem unangenehmeren anderen Schmerz abzulenken. Man kneift sich in den Finger, um den Zahnschmerz nicht mehr so sehr zu spüren. Fakire können sogar auf virtuose Weise das Schmerzerleben fast völlig ausschalten. Wer sich andererseits auf Schmerzen fixiert, dem werden sie schnell unerträglich. Aber es gilt auch umgekehrt, dass der Schmerz den Menschen ganz besonders auf seine körperliche Existenz konzentrieren kann. In allen Kulturen gab es asketische Übungen, die die Provokation des Schmerzes zur intensiveren Selbstwahrnehmung nutzten. »Kneif mich«, sagen manche Leute, wenn sie sicher sein wollen, dass etwas wirklich ist. Insofern hat auch die heute vielleicht irritierend anmutende christliche Versenkung in die Schmerzen Mariens oder die Schmerzen des »Schmerzensmannes« Jesus Christus mit Masochismus nichts zu tun. Der Christ bemüht sich dabei, in spiritueller Versenkung die Erlösung durch das schmerzliche Leiden Jesu Christi als ganz konkrete Wirklichkeit zu erleben und dadurch Kraft und Mut für sein Leben zu finden.
Dass man sich über die positiven Aspekte des körperlichen Schmerzes allerdings nicht nur mit gravitätischem Ernst äußern kann, sondern sogar lustig, hat schon Wilhelm Busch bewiesen:
Das Zahnweh, subjektiv genommen,
Ist ohne Zweifel unwillkommen;
Doch hat’s die gute Eigenschaft,
Dass sich dabei die Lebenskraft,
Die man nach außen oft verschwendet,
Auf einen Punkt nach innen wendet
Und hier energisch konzentriert.
Kaum wird der erste Stich verspürt,
Kaum fühlt man das bekannte Bohren,
Das Rucken, Zucken und Rumoren –
Und aus ist’s mit der Weltgeschichte,
Vergessen sind die Kursberichte,
Die Steuern und das Einmaleins.
Kurz, jede Form gewohnten Seins,
Die sonst real erscheint und wichtig,
Wird plötzlich wesenlos und nichtig.
Ja, selbst die alte Liebe rostet –
Man weiß nicht, was die Butter kostet –
Denn einzig in der engen Höhle
Des Backenzahnes weilt die Seele,
Und unter Tosen und Gebraus
Reift der Entschluss: Er muss heraus!!
Übrigens ließ sich Blaise Pascal von seinem Zahnschmerz sogar zu einer mathematischen Erfindung inspirieren. Dennoch, der Schmerz hat es nicht verdient, als Zahnschmerz zu enden. Dass er nämlich das Leben – bei allem Leid – intensiver machen kann und auf
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