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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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Wohltat gepriesen wird – und dies unter einem bestimmten Gesichtspunkt auch ist –, nämlich die Pensionierung nach einem arbeitsreichen Leben mit etwa 65 Jahren, das hat kaum beachtete, aber umso wirksamere Nebeneffekte. In einer Gesellschaft, die Gesundheit mit Arbeitsfähigkeit identifiziert, steht das Alter unausgesprochen unter dem Generalverdacht, eine Krankheit zu sein. Noch schlimmer aber sind die Konsequenzen, die sich aus dem »Geist des Kapitalismus« ergeben, der nach Max Weber die amerikanisierten westlichen Arbeitsgesellschaften prägt. Danach definiert sich der Wert des Menschen aus seiner Arbeitsfähigkeit und ihrem geldwerten Profit. Und für solche Gesellschaften ist ein Mensch, der nicht mehr arbeitet, ganz generell ein Mensch minderen Werts. Niemand wird das direkt sagen, ganz im Gegenteil. Der Appell zur Sorge für Menschen im Alter ist ein Topos aller Politikerreden. Doch das macht es nur noch schlimmer. Alte Menschen, die nur noch Objekt der Sorge und nicht mehr Subjekt der Geschichte sind, sind de facto Menschen zweiter Klasse, jedenfalls wenn wir den ungeschriebenen Wertekanon unserer Gesellschaften voraussetzen. Der Volksmund bewahrt dazu gefährliche Lebensweisheiten: »Wer rastet, der rostet.« Man zählt alte Menschen zum »alten Eisen«, eine liebenswürdige, etwas altertümelnde Bezeichnung für Schrott.
    Simone de Beauvoir beschuldigt das Christentum, mit dem Jugendlichkeitskult begonnen zu haben. Nicht der alte titanische Gott-Vater, sondern Gott-Sohn habe im Christentum den Siegeszug angetreten. In der Tat atmen die lebendigen Gesichtszüge Christi im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna noch die jugendliche Frische des Ostermorgens. Ein Gott, der mit 33 Jahren sein Erlösungswerk vollendet, vermittelt nicht alte Weisheit, sondern die erstaunliche Offenbarung des Neuen. Dennoch haben die eigenen antichristlichen Vorurteile Simone de Beauvoir die Sicht getrübt. Denn von einem Jugendkult kann beim Christentum ernsthaft nicht die Rede sein. Wer genauer hinschaut, der erkennt, dass das »Alte« im Christentum eben nicht als aufgehoben, sondern als erfüllt gilt. Der steinalte Simeon im Tempel verkündet das göttliche Kind als die Erfüllung seines Alters. Diejenigen Christen, die schon im 2. Jahrhundert dem Missverständnis der Simone de Beauvoir anhingen, die Markioniten, die den alten Gott des Alten Testaments verwarfen und in jugendlichem Leichtsinn nur das Neue gelten lassen wollten, wurden aus der Kirche ausgeschlossen. Die Gemeindeleitung wurde in der alten Kirche unter anderem von den »Presbytern« übernommen, das heißt wörtlich »die Ältesten«. Das »Zurück zu den Quellen« prägte immer wieder die Erneuerungsbewegungen des Christentums und von den Quellen kündete die Tradition, die von den Alten überliefert wurde. Niemals aber war der Blick nach hinten gerichtet auf eine verlorene Jugend, sondern stets nach vorne auf das ewige Leben, niemals ruhte die christliche Kunst so wie die heidnische selbstvergessen in der Schönheit, sondern alle Kraft des künstlerischen Genies gestaltete eine Schönheit, die herausriss aus dem bloßen Diesseits und durchsichtig war auf die Ewigkeit. Wer in den kraftvollen Gestalten des Michelangelo Buonarroti Jugendkult vermutet, hat nichts begriffen von der Jenseitshoffnung des tief spirituellen Künstlers aus Caprese, der die Oberflächlichkeiten einer ins Tändeln geratenen Renaissance kraftvoll überwand. Auf das Christentum kann man sich also nicht berufen bei den Feierstunden des Hautbefunds zwischen 18 und 23.
    Und das tut bezeichnenderweise auch niemand. Die Lage ist freilich hinreichend dramatisch. Wenn schon 16-jährige Mädchen ihres Lebens nicht mehr froh zu werden drohen, weil sie sich zu alt wähnen, dann ist jeder Versuch, Lebenslust zu fördern, ohne den Jugendlichkeitswahn erfolgreich zu behandeln, nichts als geschäftstüchtige, pure Hochstapelei. Man muss den Mut haben, der Wahrheit ins ungeschminkte Angesicht zu sehen, und die Wahrheit ist: Das Wichtige im Leben, das kennen alte Menschen viel besser als junge. Denn das Wichtige weiß man nicht, das Wichtige erfährt man. Daher ist in Wirklichkeit das Alter eine Ressource, eine Kraftquelle für das einzelne Leben und für die Gesellschaft. Mit der immer schnelleren Entwicklung des technischen Wissens können die Jüngeren eher mithalten als die Alten. Doch all dies Wissen ist zwar nützlich, aber nicht wirklich wichtig im Leben.
    Wichtig sind Hoffnung und

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