Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
sich zu unterhalten. Schon die damalige Theatertheorie gab als Ziel an, die Gefühle des Publikums durch Erregung von Sym-pathie (Mit-Leiden) mit den Protagonisten aufzuregen, um heilsame Erfahrungen zu bewirken. Diogenes konnte so etwas nur für eine unangenehme Störung der selbstzufriedenen Apathie (Leidenslosigkeit) halten.
Wer also Leiden chemisch rein vermeiden will, sollte sofort sein Theaterabonnement kündigen. Und Literatur sollte er ebenfalls sorgfältig meiden, denn jede gute Literatur, da ist der deutsche Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki ziemlich dogmatisch, jede gute Literatur hat, so sagt er, mit menschlichem Leiden zu tun. Recht hat er. Da man aber Romane nicht aus Schadenfreude liest, kann Leiden nicht bloß ein Schaden sein. Pathos heißt Leiden, und die barocke Leidenschaft der Engel des Gian Lorenzo Bernini auf der Engelsbrücke in Rom, die in ekstatischer Begeisterung und Sinnlichkeit die Leidenswerkzeuge der Passion Christi anbetend zeigen, vereint Leiden mit Schönheit, ohne die Grenze zum Kitsch, den es bei diesem Thema natürlich auch gibt, zu überschreiten.
Klar ist also: Opfer der Leidenslosigkeit wäre alles, was irgendwie anregt, aufregt und erregt. »Die Aphrodite würde ich am liebsten erschlagen«, sagte der Kyniker Antisthenes. Sinnlichkeit, Sexualität, Vitalität, auf all das muss man verzichten, wenn man jegliches Leid vermeiden will, von Leidenschaft ganz zu schweigen. »Plaisir d’amour ne dure qu’un moment, chagrin d’amour dure toute la vie« (Liebesfreude dauert nur einen Moment, Liebesleid dauert das ganze Leben lang), so lautet der Text eines melancholischen französischen Liebeslieds. Gerade im zärtlich-leidenden Ton dieses berühmten Lieds klingt der Zauber der Liebe besonders ergreifend aus alten Zeiten herüber. Der sprichwörtliche Sinn der Franzosen für Liebe und Erotik kannte keine Rezepte für die Vermeidung von Leid bei der Lust. »Die Jugend irrt nämlich, wenn sie meint, man stürbe an einem gebrochenen Herzen. Davon lebt man meist noch im hohen Alter«, bemerkte Maurice Chevalier. Auch im Deutschen sagt man: »Ich mag dich leiden«, und meint damit etwas sehr Schönes. Nicht nur die Literatur, die gesamte schöpferische Kultur lebt geradezu vom Leiden. »Ohne Leiden gibt es keine Kultur«, sagte Bertrand Russell.
Auch der einzelne Mensch ist er selbst und wird er selbst kaum intensiver als dann, wenn er leidet, nicht zuletzt am eigenen moralischen Ungenügen. Dennoch soll man natürlich nicht auf masochistische Weise das Leiden suchen. In gewisser Weise ist absichtsvoll gesuchtes Leid sogar unechtes Leid, das man eben nicht erleidet. Leiden ist nicht etwas, was das Leben im Angebot führt und was man konsumieren kann oder nicht. Leiden prägt und würzt das Leben unvermeidlich, und wie man es bewältigt oder nicht, wie man daran reift oder nicht, daran zeigt sich, ob ein Leben gelingt oder nicht.
Jede Religion und sogar jeder Atheismus ist eine Antwort auf das Leiden der Menschen. Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, bei dem vielen unschuldigen Menschen Leid und Tod zustießen, war nicht nur ein Naturereignis. Es war vor allem die epochale Erschütterung des Glaubens an einen »allmächtigen lieben Gott«. Es war der zündende Funke für den modernen Atheismus. Wenn solch entsetzliches Leid zugelassen wurde, dann, so hieß es in den feinen Salons einer leidfern-gelangweilten, überzüchteten Gesellschaft, könne es keinen Gott geben! Immerhin war man so christlich, dass man von vornherein die Möglichkeit ausschloss, Gott könne ein böser Dämon sein, der sich an derlei Grausamkeiten ergötze. Es war der liebe Gott, gegen den man rebellierte. Doch warum war es nicht schon viel früher zu einer solchen Reaktion gekommen? Warum nicht nach der vernichtenden Pest des 14. Jahrhunderts, warum nicht nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges? Warum also jetzt? Das 18. Jahrhundert hatte aus der Religion eine pädagogische Veranstaltung gemacht. Anständig sollte man sein, ja sogar möglichst gut. Und dazu waren die Religionen ein willkommenes Mittel. Den Heiligengeschichten maß man allenfalls einen lehrreichen Charakter zu. Gott war der Gute und alle sollten danach streben, möglichst gut zu sein. Die Religion wurde zur Bebilderung der Moral. Diese brave Geschichte vom lieben Gott und seinen lieben Kindern zerbarst beim Erdbeben von Lissabon.
Dennoch konnte wenig später das Christentum wieder zu Kräften kommen. Das lag daran, dass der
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