Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Ermutigung der Leidenden.
Dass das Leiden keineswegs ein bloßes Defizit des Lebens ist, sondern sogar eine Kraft, zeigte sich auch praktisch, als Papst Johannes Paul II. 15 Jahre nach seinem Lehrschreiben über den Sinn des Leidens als selbst an der parkinsonschen Krankheit Leidender nach Israel fuhr. Wie er dort in Yad Vashem über das unsägliche Leid, das den Juden im Holocaust angetan wurde, mit brechender Stimme sprach, das berührte Menschen in der ganzen Welt. Leid, hatte der Papst in seinem Lehrschreiben gesagt, drängt uns innezuhalten. Und viele Menschen hielten inne. Ein junger und dynamischer Papst hätte kaum einen so tiefen Eindruck hinterlassen können. Der alte und leidende Mann, Repräsentant der Religion des gekreuzigten Gottes, stellte sich nicht bloß rhetorisch, sondern existenziell dem entsetzlichsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Nicht der liebe Gott, auch nicht das »höhere Wesen«, für das man sich vor dem Abitur interessiert, sondern der leidende Gott des christlichen Glaubens ist die schweigende Antwort auf Auschwitz.
5. Alter als Segen oder was das Leben von einem Lexikonartikel unterscheidet
Wie gut, dass der Papst in Yad Vashem alt und leidend war, hätte man fast gesundheitsblasphemisch anmerken können. Und damit wäre auch das Alter im Blick. Die meiste Zeit des Lebens ist man alt, vor allem »zu alt für«. Während der Jungmensch die ersten Lebensjahre ziemlich uneingeschränkt als erfreulichen Fortschritt dahin verbucht, was man »schon kann«, schleicht sich später das Bedauern darüber ein, was man »nicht mehr darf«. Es beginnt mit den Schaukeln auf dem Spielplatz, der für 14-Jährige verboten ist, und endet mit Abgabe des Führerscheins zu dem Zeitpunkt, da der in die Jahre gekommene Formel-1-Fan das Durchbrechen der Schallmauer altersbedingt nicht mehr hört.
Obwohl man also die meiste Zeit des Lebens alt ist, will man es partout nicht sein. 60-Jährige behaupten von sich, sie seien 60 Jahre jung. Nennt man jemanden »zurückgeblieben«, errötet der vor Zorn, und man kann sich auf eine Beleidigungsklage gefasst machen. Nennt man ihn »jung geblieben«, errötet der andere auch, aber vor Rührung über ein so erfreuliches Kompliment. Dabei bedeutet beides im Grunde das Gleiche. Ich habe ein Mädchen an seinem 16. Geburtstag erlebt, das um Mitternacht in heftiges Schluchzen ausbrach und auf die besorgte Frage, was um Gottes willen passiert sei, herauspresste: »Ach, ich bin ja jetzt so alt!«
Während meines Philosophiestudiums stellte der Professor im Oberseminar die Frage, was eigentlich eine glückliche Gesellschaft sei: eine Gesellschaft, die die Jugend ehre, oder eine Gesellschaft, die das Alter ehre? Es gebe darauf nur eine richtige Antwort. Eigentlich hätte man gerne einen Kompromiss vorgeschlagen nach dem Motto: »Es kommt darauf an …«, aber das war ja ausgeschlossen. In der Tat gelang es dem Professor, eindrucksvoll klar zu machen, dass nur eine Gesellschaft, die das Alter ehre, eine glückliche Gesellschaft sei. Ehre man nämlich die Jugend, dann sei schon für den jungen Menschen der Blick in die Zukunft ein Blick ins Düstere eines unaufhaltsamen Abstiegs und der Blick in die Vergangenheit die Vergegenwärtigung eines unwiederbringlichen Verlusts. Ehre man dagegen das Alter, dann sei das Leben ein Weg hin zu dem erstrebenswerten Ziel, eines Tages wie in antiken Zeiten geachtet und geehrt im Senat (von senex, der Greis) zu sitzen, die grundlegenden Entscheidungen für die Gesellschaft zu fällen und schließlich »alt und lebenssatt«, wie das Alte Testament plastisch formuliert, zu sterben. Keine Frage, bei welchem von den beiden Modellen das Projekt »Lebenslust« besser aufgehoben wäre.
Doch von einer Gesellschaft der Alterslust sind wir meilenweit entfernt. Unsere westlichen Gesellschaften scheuen keine Mühen, um das zu werden oder zu bleiben, wovon die Weisen der Antike dringend abgeraten haben, nämlich entschieden und kompromisslos unglückliche Gesellschaften. Was schon als vergebliche Verewigung des Hautbefunds von 18- bis 23-Jährigen beschrieben wurde, ist nur die letzte Absurdität einer längeren Entwicklung. Die Unerbittlichkeit dieses Prozesses hat damit zu tun, dass sich eigentlich niemand dafür verantwortlich fühlt. Vielmehr führte vom strahlenden jugendlichen Helden der Frührenaissance über den morbiden jugendlichen Liebhaber des Rokoko ein direkter Weg zur Sozialgesetzgebung des 19. Jahrhunderts. Was noch heute als
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