Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Licht zu sehen, als das üblich ist, ja sie überhaupt erst ins Licht zu stellen. Dabei ist gerade die Unvermeidlichkeit, mit der sie sich für jeden Menschen ereignen, die große Chance. Denn auch das Heil, das Glück, ereignet sich, man kann es nicht herstellen. Und wenn in unvermeidlichen Ereignissen das Glück gefunden werden kann, dann hat ausnahmslos jeder Mensch die Chance zum Glück. Viele sehen das Schicksal als bedauerliche Ansammlung von allen möglichen Widrigkeiten, die man noch nicht so ganz im Griff hat und denen man wenigstens mit Hilfe der Astrologie und anderer aussichtsloser Neugierigkeiten ein Schnippchen schlagen will. Doch entlarven sich solche Bemühungen nach dem bisher Gesagten nicht nur als Zeitverschwendung, sondern als direkter Weg in ein unglückliches Leben. Vielmehr ist die Akzeptanz einer letzten Unvermeidlichkeit der genannten Grenzsituationen Voraussetzung dafür, sie als ernsthafte und chancenreiche Herausforderung für ein gelingendes Leben zu sehen. Dabei geht es gerade nicht um irgendein »positives Denken«, das mit künstlicher Heiterkeit durchs eigene Leben tänzelt. Es geht um den Versuch, die Wirklichkeit wahrzunehmen und nicht bloß Gedanken oder Klischees über die Wirklichkeit. Daher muss man akzeptieren, dass vieles im Leben wirklich tragisch ist, also von auswegloser Belastung geprägt. Aber auch wie man damit umgeht, was an zunächst zweifellos Unerfreulichem eintritt, das macht die Fähigkeit zu einem guten und glücklichen Leben aus.
Schmerzlich an Grenzen zu stoßen und dabei nicht zu scheitern, sondern das Leben gerade da kraftvoll und mit Lustgewinn zu bewältigen, diese Lebenshaltung findet ihren modernen Ausdruck auch in der Kunst. Moderne Kunst lebt nicht von in sich beruhigten Harmonien. Vielmehr speist sich ihre Vitalität aus provozierenden Dissonanzen. Doch eben dadurch vermag sie zu vermitteln, dass an den Grenzen unserer Existenz, das heißt auch an den Gebrochenheiten und Abbrüchen, in der Abwesenheit von Heil, die Sehnsucht nach Heil und die Ahnung des Heils umso intensiver zu spüren sind.
Joseph Beuys hat seine eigenen Grenzsituationen im Krieg, wo ihm wärmender Filz und nährende Butter das Leben retteten, zu künstlerischer Gestalt verdichtet – keiner schönen, ruhigen Gestalt, aber zu etwas Ergreifendem, was von echtem Leben, von echter Rettung zeugt und auf seine Weise sogar von einem Weg unruhiger Lebensfahrt hin zu so etwas wie ewigem Leben. In manchen Filmen von Luis Buñuel erlebt man die Abwesenheit der Erlösung so schmerzlich, dass gerade diese Intensität besonders gut vermittelt, was Erlösung sein kann.
Wenn das Heil in dieser Welt gehobener Ansprüche also nicht produzierbar ist, auch nicht auf Krankenschein mit den Mitteln der Medizin, so ist es doch erfahrbar: nämlich als Sehnsucht nach dem Heil, als Ahnung des Heils in den Fragmenten eines Lebens und an den Grenzen der Existenz. In diesem Sinne gibt es auch keine endgültige und ganzheitliche Heilung. Heilung bleibt immer Fragment und als solches offen für das sich ereignende Ganze, für das Heil, und erfährt von dort sogar seinen Sinn. Und das Ganze ist nie bloß individuell. Der Mensch ist ein soziales Wesen und daher bleibt die gängige Vorstellung einer rein individuellen Gesundheit inmitten der Heillosigkeit der Welt immer abstrakt.
Indem der Mensch auf diese Weise bewusster als Mensch lebt, wird er sozusagen mehr Mensch und weniger Maschine, die bloß berechenbar und reparierbar ist, ihm wird klar, was er wirklich ist, nämlich ein unermessliches, undefinierbares, unverfügbares Wesen. Dem muss der Arzt gerecht werden, der mehr sein will als nur kenntnisreicher Mediziner. Er kann das weder als der göttergleiche Philosoph der griechischen Antike noch als der göttliche Macher der Moderne. Vielmehr wird er bescheiden sein müssen und die Fähigkeit benötigen, zwischen der gelassenen Hinnahme des Unvermeidlichen und der entschiedenen heilenden Erreichung des Möglichen zu unterscheiden. Dazu bedarf es mehr als eines Studiums, dazu bedarf es der Weisheit, die die Erfahrung eines Lebens schenkt. Ohne eine solche Weisheit wird die Medizin barbarisch werden.
D. Lust auf Leben – über psychotherapeutische Virtuosen und Zuhälter
Ü ber Weisheit«, so lautete das Thema des Einleitungsvortrags auf dem größten deutschen Psychotherapeutenkongress in Lindau im Jahre 2001. Und es sprach gar kein Psychotherapeut. Ein bedeutender Naturwissenschaftler, wohl über 80 Jahre
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