Lebt wohl, Genossen!
fast feudale Herrschaftsformen angenommen und eine beispiellose Günstlingswirtschaft entwickelt. Nun begann der Staatsanwalt für besondere Angelegenheiten, der Armenier Telman Gldjan, seine Ermittlungen gegen die Baumwollmafia in Turkmenistan und entdeckte dort Seilschaften, die bis in die höchsten Zirkel der Macht reichten. Die von Andropow in Angriff genommenen Säuberungen wurden von Gorbatschow fortgesetzt, teilweise auch, um die Lokalfürsten der Ära Breschnew endlich loszuwerden. Die Ergebnisse waren schockierend: Führende Parteisekretäre, Staatsbeamte und Polizisten entpuppten sich massenhaft als korrupt. Mit Geld, leichter noch für Gold konnte man selbst rechtskräftig verurteilte Schwerverbrecher freikaufen.
L ÜCKEN IN DER R ECHTSSICHERHEIT
Doch andere Formen der Kriminalität bereiteten noch größere Sorgen, wobei die Statistik lediglich eine quantitative Verschlechterung der Lage zeigte. Zwischen 1983 und 1987 registrierte man einen Zuwachs an Kriminalität um 18 Prozent – sicherlich eine Folge der Desintegration und moralischenErosion der Gesellschaft. Für die ohnehin unmündigen Bürger bedeutete dies das Gefühl der Rechtsunsicherheit, Bedrohung und Unfähigkeit der Behörden, sie vor der Unterwelt in Schutz zu nehmen. So lebten die Einwohner der ukrainischen Bergwerksstadt Schachti die ganzen Achtzigerjahre hindurch in panischer Angst von einem Serienmörder. Erst 1990 wurde der Mann gefasst und verurteilt, nachdem ihm 53 Vergewaltigungen und Mordtaten an jungen Frauen und Kindern nachgewiesen werden konnten. Besonders furchtbar an der Affäre Andrej Tschikatilo war die Tatsache, dass er für sein Umfeld jahrelang als «netter Nachbar» galt. Der Mörder war Diplomphilologe, Lehrer, verheiratet, Vater von zwei bereits erwachsenen Kindern und nicht zuletzt Mitglied der KPdSU, aus der er nach 24 Jahren Mitgliedschaft wegen eines einfachen Diebstahls ausgeschlossen worden war. Die Ermittlungen waren durch die Art und Weise, mit der die sowjetischen Medien das Thema Kriminalität bis in die zweite Hälfte der Achtzigerjahre behandelten bzw. möglichst verschwiegen, wesentlich erschwert worden. Es galt die Auffassung, kriminelle Machenschaften, vor allem Schwerverbrechen, seien ein für das Land des «hoch entwickelten Sozialismus» untypisches Phänomen.
Nach und nach drangen die Nachrichten über die alarmierenden Zustände des Alltags sowie ungeschminkte Informationen über die wirtschaftliche Lage in den Sitzungssaal des Politbüros. Dabei wollten sich vor allem die älteren Kader am liebsten mit Fragen ideologischer Art befassen – etwa damit, ob in die Rede des Generalsekretärs auf dem bevorstehenden XXVII. Parteitag der KPdSU eher der Begriff «sozialistische Selbstverwaltung» oder lieber «sozialistische Demokratie» aufgenommen werden sollte (Politbürositzung vom 23. Januar 1986). Dieses beinahe esoterische Denken irritierte Gorbatschow, der überraschenderweise die Privilegien der Oberschicht zu kritisieren begann: «Das Leben ist das Leben. Und, nebenbei gesagt, wir müssen bei uns selbst anfangen: Die Chefs auf allen Ebenen verfügen über ihre eigenen Versorgungskanäle. Ihre Gattinnen besuchen keine gewöhnlichen Läden mehr. In jedem Bezirk und jeder Stadt gibt es geschlossene Verteilungszentren voller Importwaren. Wir sind selbst schuld. Vielleicht sind wir sogar auf kriminelle Wege geraten …» Aber die Stunde der Wahrheit ließ noch lange auf sich warten, und den schrecklichen Preis für das Nichtwissen oder Nichtwissenwollen der politischen Elite zahlte das Volk. Der Preis hieß: Tschernobyl.
E INE K ATASTROPHE UND IHRE L EHREN
An den Anruf am frühen Morgen auf der Datscha erinnerte sich Gorbatschow 20 Jahre später: «Man teilte mir mit, dass es im Tschernobyler Atomkraftwerk zu einer ernsthaften Havarie und einem Brand gekommen sein soll, aber dass der Reaktor unversehrt geblieben sei. Meine erste Reaktion war Unverständnis: Wie konnte so etwas passieren? Die Wissenschaftler haben uns, den Führern des Landes, doch versichert, dass der Reaktor absolut ungefährlich sei. Das Akademiemitglied Alexandrow zum Beispiel hatte behauptet, den Hochleistungsreaktor könnten wir gleich auf den Roten Platz stellen, es gehe nicht mehr Gefahr von ihm aus als von einem Samowar.»
Die Explosion in Block 4 des Kernkraftwerkes in der Nähe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 kurz vor halb zwei Uhr nachts. Die enorme Explosion, bei der 500-mal mehr
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