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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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Kino Haskolabio im Studentenviertel.
    Ort der Verhandlungen war Hofdi House an der Atlantikküste, das einstöckige Gästehaus, in dem früher die britische Botschaft residiert hatte. Angeblich hatten die Briten das Gebäude 1952 verkauft, weil dort nächtens Geister herumspukten. Dies bereitete der amerikanischen Seite offenbar kein Problem, vorausgesetzt, dass es sich dabei nicht um das berühmte Gespenst des Kommunismus handelte. Auch die sowjetischen KGB-Experten fanden den von fast allen Seiten mit Wasser umgebenen Ort sicher genug. Im Erdgeschoss verhandelten die beiden Chefs mit Dolmetschern und Protokollführern, in der ersten Etage saßen die Delegationen. Die Experten bearbeiteten die aus dem Erdgeschoss regelmäßig kommenden neuen Instruktionen und diskutierten die Details untereinander. Nach Beendigung des Tages kehrte Gorbatschow mit seiner Begleitung auf das Schiff zurück, während Reagan in der Residenz seines Botschafters Quartier nahm.
    Ob und inwiefern die Verhandlungen in Reykjavík erfolgreich waren, darüber gehen die Meinungen bis heute auseinander. Tatsache ist, dass das sowjetische Verhandlungsziel – die Halbierung des Atompotenzials und die Vernichtung aller ballistischen Raketen innerhalb von zehn Jahren, also die sogenannte doppelte Nulloption – knapp verfehlt wurde, da Gorbatschow dieses mit dem Verzicht auf das «Sternenkriegsprogramm» SDI verband. Gleichzeitig war der Vorstoß bedeutsamer als alles, was je aus dem Kreml an Vorschlägen gekommen war, und diesem Umstand musste auch die US-Delegation Rechnung tragen. Während der ersten Lunchpause in einem, wie der damalige Außenminister George Shultz betonte, abhörsicheren Nebenraum des Botschaftsgebäudes sagte Shultz ehrlich begeistert: «Er hat uns Geschenke vor die Füße geworfen! Genauer, auf den Tisch – ein Zugeständnis nach dem anderen!» Reagan gab sich skeptisch: «Ich befürchte, er will einfach SDI killen.» Einig waren sie sich zunächst darin: Wenn die Russen solche Konzessionen machen, dann brauchte Gorbatschow dieses Abkommen äußerst dringend. Also nur keine Eile!
    Am zweiten Verhandlungstag war der sowjetische Parteichef noch kompromissfreudiger: Er war bereit, einiges mehr an sowjetischen Mittelstreckenraketen aus dem Verkehr zu ziehen, als er dies von den Kontrahenten erwartete. Reagan blieb bei seiner Position, fragte jedoch mit besorgtem Gesicht: «Nicht wahr, wir werden mit leeren Händen wieder abreisen?» Darauf antwortete Gorbatschow: «Faktisch ja.» Reagan versuchte auf seine Art zu scherzen: «Ich kann mir vorstellen, dass wir uns wieder inIsland treffen, um in feierlicher Stimmung die letzte amerikanische und sowjetische Rakete zu vernichten. Ich werde schon so alt sein, dass Sie mich nicht mehr erkennen. Und Sie werden verwundert fragen:
Ist es möglich, Ron, dass du das bist? Was machst du hier?
Und dann feiern wir zu diesem Anlass ein großes Fest.» Gorbatschow antwortete mit ironischer Melancholie: «Ich weiß aber nicht, ob ich diesen Moment noch erleben werde.»
    Reagan und Gorbatschow in Reykjavík: «Nicht wahr, wir werden mit leeren Händen wieder abreisen?»
    Dennoch war das Fiasko von Reykjavík ein anderes als das von Genf. Hatte man in der Schweiz noch versucht, einen Ausweg aus der langjährigen Sackgasse des Rüstungswahnsinns zu finden, so war man in Europas nördlichster Hauptstadt bereits ein paar Schritte auf diesem Weg gegangen. Schließlich konnte im Dezember 1987 bei Gorbatschows Besuch in Washington das Versäumte nachgeholt werden. Der Sowjetführer verzichtete diesmal auf sein Steckenpferd, die Amerikaner von der SDI abzubringen. So konnte das Abkommen über den Raketenabzug in Europa geschlossen werden. Für Reagan bedeutete dies einen würdevollen Abschluss seiner Präsidentschaft, den er auch gebührend feierte. Beim abendlichen Empfang im Weißen Haus, so lesen wir bei Iwan Gratschow, saß am Klavier kein Geringerer als Van Cliburn, Gewinner des Tschaikowski-Wettbewerbs in Moskau 1958. Als der Maestro den Schlager
Moskauer Nächte
spielte, sangen oder summten alle mit: «Wenn es Abend wird in der großenStadt,/wenn die ersten Lichter erglühn,/ja dann denke ich/noch so oft daran,/wie es einst mit uns zwein begann.» Mithilfe von Gorbatschows warmem Bariton fand der Rüstungswettbewerb von mehr als 40 Jahren einen wahrhaft hollywoodschen Abschiedsakkord. Jedenfalls war eine der Supermächte aus dem Spiel ausgestiegen.
D IE A NTIALKOHOL -K AMPAGNE
    Gorbatschows erster

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