Lebt wohl, Genossen!
wirklicher Vorstoß war jedoch innenpolitischer Natur. Der Anfang Mai 1985 gestartete Feldzug gegen die Trunksucht erwies sich als die letzte groß angelegte politische Kampagne der sowjetischen Geschichte. Einerseits beschränkte man den Verkauf alkoholischer Getränke auf die Zeitspanne zwischen 11 und 19 Uhr. Andererseits wurde die Menge auf eine Literflasche pro Einkauf begrenzt, für Hochzeiten durften maximal zehn Liter gekauft werden. Auf diese Weise gelang es, den Konsum um ein Viertel zu verringern, und eine Reihe von Schnaps- und Likördestillerien sowie Verkaufsstellen wurden geschlossen. Diese Maßnahmen brachten in den ersten zweieinhalb Jahren eindrucksvolle Erfolge mit sich: eine Senkung der Sterblichkeit, darunter die Halbierung der Todesfälle aufgrund von Alkoholvergiftung, eine Erhöhung der Geburtenrate, die Steigerung der Arbeitsproduktivität, ein Anwachsen der Sparguthaben usw. Doch wie jede sowjetische Kampagne in der Geschichte war auch diese in den Erwartungen heftig überzogen. Insbesondere Jegor Ligatschow, damals die Nummer zwei in der KP-Führung, forderte keine Mäßigung, sondern die radikale Ausrottung des Alkoholkonsums. Er wollte sogar die historische Vinothek Massandra auf der Krim vernichten. Erst durch eine Intervention bei Gorbatschow konnte dieses Vorhaben gestoppt werden. Betriebsdirektoren und Parteifunktionäre wurden wegen eines kleinen Umtrunks gefeuert, und man propagierte «Komsomolzen-Eheschließungen» mit Fruchtsaft. Selbst ältere Filme wurden auf Trinkszenen überprüft. Der Grundfehler lag jedoch im Konzept selbst: Trotz der Warnung von Bajbakow, dem Chef des Planamtes, hatte man nicht bedacht, dass Alkohol 24 Prozent des gesamten Warenverkehrs und 12 Prozent der staatlichen Einnahmen ausmachte. Der jährliche Verlust von Milliarden Rubeln im Staatsbudget wurde bald spürbar. Ähnlich wie die Prohibition der Zwanzigerjahre in den USA ließ auch diese Maßnahme dasSchwarzbrennen erblühen, und die Lebensmittelschlangen wurden in ihrer Länge bald von den langen Reihen vor den Getränkeabteilungen der Läden übertroffen. Das gemeine Volk machte für alles Gorbatschow verantwortlich und versah ihn mit spöttischen Spitznamen wie «Mineralsekretär» oder «Limonaden-Joe». Mit der Zeit ließ der offizielle Eifer bei der Verkündigung der allgemeinen Nüchternheit jedoch nach.
Nüchternheit – Norm des Lebens. Statt Trinken werden Besuch im Kino, Theater, Klub, Park und Museum empfohlen. Propagandaslogan auf einer Briefmarke im Wert von fünf Kopeken. Der Kampf gegen die Trunksucht war begründet, die Mittel passten nicht, was zum Scheitern der Kampagne führte
S CHWERE A NFÄNGE
Die Antialkohol-Kampagne zeigte, dass trotz der neuen Ansätze in der sowjetischen Führung die alten Methoden und Denkweisen vorherrschten. Man glaubte daran, dass richtig gemeinte Entscheidungen, konsequent durchgeführt, zum erwarteten Erfolg führen würden. Aus diesem Denken heraus wurden im Mai 1985 die Löhne der wissenschaftlichen Mitarbeiter, Ingenieure und Techniker pauschal um 50 Prozent erhöht, um so der These «Wissenschaft ist Produktivkraft» Nachdruck zu verleihen. Im August 1985 wurden die Löhne von Betriebsangestellten in Abhängigkeitzu einer nicht näher definierten Produktivität gebracht. Ganz im Sinne des alten Plandenkens beschloss man im Oktober 1985 die Erhöhung der Produktion von Lebensmitteln und Dienstleistungen um 30 Prozent bis 1990 und um 80 – 90 Prozent bis zum Jahre 2000. Der Parteichef selbst versprach unter anderem, den Mangel an Kinderkrippen im Rahmen des 12. Fünfjahrplans (1985–1990) gänzlich zu beheben.
Dennoch reifte allmählich im engsten Machtkreis sowie bei den Beratern die Einsicht, dass die gewaltigen Herausforderungen nicht mehr mit den gewohnten Mitteln bewältigt werden konnten. Diese Einsicht wurde auch durch die Rundreisen der Parteiführer durch das Land gefestigt. Sie fuhren unter anderem nach Leningrad, Kiew, Dnjepropetrowsk, Minsk, in das sibirische Tjumen und das kasachische Zelinograd. Diese Exkursionen sollten ursprünglich die Volksnähe der Spitzenfunktionäre signalisieren, als Nebeneffekt trugen sie jedoch trotz Leibwächtern und beschönigender Berichte der lokalen Funktionäre zum wachsenden Problembewusstsein der Führung bei.
Einige Reiseziele, besonders in den zentralasiatischen Republiken, gehörten zu den Problemzentren des Sowjetlandes: Die alte lokale Elite hatte nach jahrzehntelanger Machtausübung
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