Lebt wohl, Genossen!
Radioaktivität freigesetzt wurde als in Hiroshima, war teils auf menschliches Versagen, teils auf Konstruktionsfehler des zwei Jahre vorher in Betrieb genommenen Reaktors zurückzuführen. Eigentlich sollte der Reaktor aufgrund technischer Mängel ausgeschaltet und repariert werden. Die sowjetischen Medien verschwiegen zunächst das Geschehene. Erst nachdem schwedische Kernphysiker am 28. April um 9 Uhr in ihrem Laboratorium erhöhte Strahlenwerte erfassten, diese als «östlich von Schweden kommend» orteten und die westlichen Sender die Neuigkeit in die Welt verbreiteten, hielt die Nachrichtensendung «Wremja» es für angebracht, um 21 Uhr am Abend desselben Tages die wortkarge TASS-Mitteilung zu verlesen: «Im Atomkraftwerk von Tschernobyl geschah eine Havarie, einer der Atomreaktoren ist beschädigt. Es werden Maßnahmen ergriffen, um die Folgen der Havarie zu beseitigen. Den Leidtragenden wird Hilfe geleistet.» Dass es sich um eine Explosion sowie Freisetzung von Radioaktivität handelte und dass es bereits die ersten Todesfälle gab, blieb unerwähnt. Heute fällt uns an diesem Text noch etwas auf: Die vollständige Bezeichnung des größten sowjetischen AKWs, «Tschernobyler W.-I.-Lenin-Atomkraftwerk», wurde verkürzt. Offensichtlich wollte man die bereits sichtbar gewordene Katastrophe nicht mit dem Namen des Gründers des Sowjetstaates verbinden.
Aus heute zugänglichen Geheimdokumenten lässt sich der Schock dersowjetischen Führung ablesen. Außer der aktuellen Notlage quälte sie die Frage: Wie sollte eine Nachricht von dieser Tragweite überhaupt dem eigenen Volk und der bereits besser informierten übrigen Welt mitgeteilt werden? Dabei waren sich die Parteiführer dessen bewusst, dass die bisherige Praxis, die Tatsachen schlicht zu leugnen, in Zeiten moderner Kommunikationsmöglichkeiten zu nichts führte. Außerdem erhielten auch sie die Informationen zu spät, oder diese waren ungenau, was ein schnelles Handeln verhinderte. Die späte Evakuierung der kernkraftnahen Siedlungen hatte bereits Tausende von Opfern gefordert. Trotz der dramatischen Entwicklung war die Haltung der Genossen in der Sitzung des Politbüros vom 28. April bei aller scheinbaren Einstimmigkeit ambivalent. Dabei hatten die radioaktiven Wolken zu dieser Stunde bereits die westliche Staatsgrenze bei Wilna erreicht.
So oder so: Die offizielle Nachricht zeugte davon, dass an diesem ersten warmen Frühjahrswochenende neben der grandiosen technischen Panne auch ein GAU im sowjetischen Kommunikationssystem eingetreten war. Den Rückschlag bekamen als Erste die Mitglieder der vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Boris Scherbina geleiteten Regierungskommission zu spüren, als sie in Pripjat ohne Spezialkleidung und Atemschutzgeräte eintrafen und in dem schwer kontaminierten Restaurant «Polesje» ihr verseuchtes Mittag- und Abendessen verzehren mussten. «Ebenfalls in normaler Kleidung und ohne Atemschutzgerät beflogen unsere Akademiemitglieder das Terrain», erinnerte sich Gorbatschow an die schauderhafte Szene. «Alle, die mich informierten, begriffen letztendlich nicht, was eigentlich geschah.»
Dasselbe ließe sich wohl über Zehntausende von Helfern aus Armee und Zivilbevölkerung sagen, darunter viele Freiwillige, die in den letzten Apriltagen damit begannen, aufopferungsvoll, heroisch und ungeschützt zu retten, was noch zu retten war. Die Mehrzahl der in einem UNO-Bericht auf 4000 geschätzten direkten Todesopfer sowie ein Teil der halben Million Menschen, die bei dem Unglück verstrahlt wurden, war eindeutig dem miserablen Informationsstand der sowjetischen Gesellschaft geschuldet.
Tschernobyl erwies sich als Wendepunkt in der Geschichte. Das galt nicht nur für die von den sowjetischen Führern beabsichtigte Perestroika, sondern auch für die von ihnen gar nicht gewollte Erosion des Systems – eine Art Jüngstes Gericht, zumal die Gläubigen sehr schnell den passendenHinweis im Buch der Bücher fanden. So lasen diejenige, die eine Bibel hatten oder in die Kirche gingen, das Zitat aus der Offenbarung des Johannes (8,10): «Und der dritte Engel stieß in die Posaune: da fiel ein großer Stern, der wie eine Fackel brannte, vom Himmel herab und fiel auf den dritten Teil der Flüsse und auf die Wasserquellen. Der Name des Sternes lautet
Wermut.
Da wurde der dritte Teil der Gewässer Wermut, und viele Menschen starben von dem Genuss des Wassers, weil es bitter geworden war.» Das Wort Wermut heißt auf Ukrainisch
Weitere Kostenlose Bücher