Lebt wohl, Genossen!
«Tschornobyl». Wer weniger gläubig oder abergläubisch war, der erlebte die größte Atomkatastrophe der Geschichte vor allem als Vertrauensverlust, verbunden mit der Einsicht, dass es Dinge gab, denen gegenüber selbst die Mächtigsten machtlos waren. Das Misstrauen schlug auf das erst beginnende Reformwerk zurück. Man machte den traurig-scherzhaften Reim darauf: «Perestroika – ein wichtiger Faktor/dabei versagte der Reaktor.» Auch die Herrschenden mussten einsehen, dass sie endlich den Dialog mit dem Volk beginnen sollten, in dessen Namen sie das Machtmonopol ausübten. So hieß es in der Rede des Generalsekretärs vom Januar 1987: «Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen.»
D IE H EIMKEHR EINES V ERBANNTEN
Der wegen seines Protestes gegen den Afghanistankrieg seit Anfang 1980 nach Gorkij (Nischnij Nowgorod) verbannte Atomphysiker und Vordenker der demokratischen Bewegung Andrej Sacharow lebte in dieser Zeit noch isolierter als sonst, woran er gewissermaßen selbst «schuld» war. Mit einem hartnäckigen Hungerstreik erreichte er, dass seine Frau Jelena Bonner nach Italien zu einer Bypassoperation ausreisen durfte. Zwischen November 1985 und Juni 1986 war der Atomphysiker auf Informationen durch gelegentliche, zudem von den Sicherheitskräften meist behinderte Besuche von Moskauer Freunden angewiesen. So war es nicht verwunderlich, dass er den Supergau von Tschernobyl aufgrund seiner ausschließlich aus offiziellen Quellen gewonnenen Informationen zunächst als nicht sehr schwerwiegend einschätzte. Was ihn damals mehr beunruhigte, war die Lage einiger sowjetischer Gefangenen (sog. Gewissensgefangene), besonders des Dissidenten Anatolij Martschenko, der bereits seit 1980 im Lager saß. Vor allem seinetwegen schrieb Sacharow seinen ersten Brief anMichail Gorbatschow, der in der Öffentlichkeit gerade behauptet hatte, in der UdSSR werde niemand wegen seiner Überzeugungen verfolgt. Obwohl dieser Brief unbeantwortet blieb, wurden die Verbannungsbedingungen des Wissenschaftlers danach gelockert. So erfuhr er über Kollegen aus dem Kernphysischen Institut Moskau von den furchtbaren Einzelheiten und unveröffentlichten Daten zu Tschernobyl, und als seine Frau zurückkehrte, konnte er sich ein vollständiges Bild von der Katastrophe verschaffen. Wissenschaftlich beschäftigte er sich zu dieser Zeit mit der Konstruktion sicherer Atomkraftwerke, die er sich «tief unter der Erde» vorstellen konnte. Vielleicht hoffte er, dass solche Projekte ihm und seiner Frau eine Rückkehr nach Moskau erleichtern würden. Jedenfalls kam bald darauf jener 16. Dezember, der nicht nur für Sacharows persönliches Schicksal, sondern auch für die politische Kultur der Sowjetunion eine Wende bedeutete. Sacharow berichtete in seinen Memoiren:
Die ahnungslose Regierungskommission speiste am Ort der Katastrophe
«Um 15 Uhr klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab. Eine Frauenstimme: ‹Michail Sergejewitsch wird mit Ihnen sprechen. › – ‹Ich höre. › – (…) ‹Guten Tag. Hier spricht Gorbatschow. › – ‹Guten Tag. › – ‹Ich habe Ihren Brief erhalten. Wir haben ihn geprüft und uns beraten. (…) Sie bekommen die Möglichkeit, nach Moskau zurückzukehren. (…) Kehren Sie an Ihre patriotische Arbeit zurück! › – ‹Ich bin Ihnen sehr dankbar … (…) Aber ich flehe Sie an, die Freilassung der Menschen, die ihrer Überzeugung wegen verurteilt wurden, noch einmal zu erwägen!›»
D IE L UFT ZUM A TMEN – L OCKERUNG DER Z ENSUR
Die Entlassung von Russlands bekanntestem Dissidenten aus der Verbannung sollte der gesamten Intelligenz ein Signal geben: Im Zuge der Transparenz
(Glasnost)
fielen die alten, versteinerten Tabus, die sowohl für die Presse – bis hin zur Kontrolle der Wetterberichte zur Erntezeit – als auch für die schönen Künste galten. Das Erscheinen von Büchern wie Pasternaks «Doktor Schiwago» oder Grossmans «Leben und Schicksal» in millionenstarken Auflagen, die Wiederzulassung der Werke von Exilautoren wie Solschenizyn kündigten eine neue Ära an, die der zuvor lange von der Zensur unterdrückte Semiotiker Jurij Lotman als «literarische Explosion» bezeichnete.
In der Massenkultur gab es ebenfalls spektakuläre Veränderungen. So wurde das noch 1985 verfügte Verbot für westliche LPs aufgehoben – unter anderem waren Pink Floyd «wegen Antisowjetismus», Black Sabbath «wegen Aggressivität» und Tina Turner «wegen Sex» verboten worden. Die Zulassung dieser
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