Lebt wohl, Genossen!
beauftragten Ministerialbeamten, wo die sterblichen Überreste von Imre Nagy und seinen Mitstreitern verscharrt worden seien. Dieser deutete verlegen mit seinem Fuß auf eine Stelle im Rasen und sagte: «Hier, wo ich stehe.» Ein paar Tage später erschien der gestörte Greis Kádár unerwartet auf der ZK-Sitzung und hielt eine surrealistische Rede, die bis heute die Fantasie seiner Biografen ebenso beschäftigt wie Schriftsteller und Psychologen. Ein Auszug:
Der Eingang der Kunsthalle in Trauer verhüllt: 31 Jahre nach der Hinrichtung des Ministerpräsidenten Imre Nagy und seiner Kampfgefährten werden sie in Budapest feierlich neu bestattet
«Ich bitte um Nachsicht, weil ich mich als Erster zu Wort melde, und ich werde auch länger reden als gewöhnlich. (…) Und ich habe eine Bitte. Noch. Mein Problem ist, dass ich vergesslich bin, manchmal weiß ich, was ich will, aber ich nehme ständig ab. Sie werden etwas Seltsames von mir hören. Was ist meine Verantwortung? Das, womit ich nicht nützlich war (…) ich habe ein Leben lang frei gesprochen, und wenn ich wichtige Briefe schrieb, dafür gibt es Zeugen, dann schrieb ich sie selbst. Ich bin zwar ein primitiver Mensch, denn ich habe nur vier Klassen Mittelschule gemacht (…) aber die Schulen waren damals besser, das Kind konnte schreiben und lesen lernen, nicht immer die ewigen Reformen, jedes Jahr einneues System, und so weiter. (…) Und mir ist es egal, was Sie mir sagen, meinetwegen kann mich jeder erschießen, denn ich bin mir immer dieser Verantwortung bewusst, dass ich niemanden namentlich nennen werde (…) und ich bitte um viel Wasser, denn ich bin nervös.» Nach dieser Ansprache, während der manche Anwesende geschluchzt haben sollen, wurde der langjährige Parteichef auch seines Postens als Ehrenvorsitzender enthoben und endgültig in den Ruhestand geschickt. Zwei Monate später war er tot.
Allerdings wurde die Szene in jenen Tagen von einem anderen Ereignis beherrscht. Präsident Bush senior war auf dem Weg nach Polen zu Besuch in Budapest und hielt einen Vortrag in der Aula der ökonomischen Universität «Karl Marx». Die Büste des Namensgebers hatte man taktvoll verhüllt. Man erwartete, dass der hohe Gast die Summe nennen würde, mit der die amerikanische Regierung der ungarischen Marktwirtschaft unter die Arme greifen wollte. Als die Zahl «25 Millionen Dollar» aus berufenem Munde ertönte, war der enttäuschte Stoßseufzer des Publikums unüberhörbar.
A BSCHIED DER UNGARISCHEN KP VON IHRER FÜHRENDEN R OLLE
An dem eckigen ungarischen Rundtisch im Parlamentsgebäude begannen die Verhandlungen am 13. Juni. Trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten wichen die ungarischen Verhandlungen markant von den polnischen ab. In Ungarn fehlte die vermittelnde Kraft der katholischen Kirche ebenso wie eine starke Machtelite oder eine selbstbewusste Arbeiterschaft. Man verhandelte nicht mit einem zeitnahen Kriegszustand im Hintergrund, sondern aus der zynisch-gemütlichen Atmosphäre der späten Ära Kádár heraus, die bis heute erkennbare Spuren in der Mentalität der Gesellschaft hinterlassen hat. Die Opposition verhandelte nicht über das ‹Wie› des zukünftigen parlamentarischen Systems, sondern nur über den Weg dorthin. Sie forderte die Abschaffung sämtlicher Paragrafen des Strafgesetzbuches, die zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung dienten, und sie forderte die Auflösung der Arbeitermiliz-Kampfgruppen, die als bewaffneter Arm der USAP galten. Sie wollte den Rückzug der Parteiorganisationen aus Betrieben und Dienststellen, und schließlich betrachtete sie eine Offenlegung des Parteivermögens als unabdingbar. Die Partei undihre Verbündeten optierten für eine starke Stellung des Präsidenten der Republik, eine Position, die ihrem Spitzenpolitiker, dem Reformer Imre Pozsgay, vorbehalten bleiben sollte.
Zwei Wochen nach der Trauerzeremonie für Imre Nagy und seine Kampfgefährten wird János Kádár im Pantheon der Arbeiterbewegung beerdigt. Sitzend bei der Aufbahrung: die Witwe Maria
Im Grunde jedoch wussten sie spätestens nach der Neubestattung von Imre Nagy und seinen Kampfgefährten, dass sie die Schlacht historisch verloren hatten und sich bestenfalls mit einem kleinen politischen Gewinn zufriedengeben mussten. Nach damaligen Meinungsumfragen hatte die USAP ungefähr 35 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Offensichtlich dachten die Meinungsforscher nicht an die unglaubliche Dynamik der Zeit. Diese spiegelte sich in der
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