Lebt wohl, Genossen!
ironischen Art, mit der manche Gesprächspartner auf ihre Armbanduhr schauten und sagten: «Heute, um 14 Uhr 13 Minuten und 53 Sekunden, lautet meine Meinung wie folgt …»
Besonders spektakulär in dieser Hinsicht war die Beseitigung des Eisernen Vorhangs, im militärischen Fachjargon «technisches Sperr- und Festungssystem» genannt. Die monströse Militäranlage war im Frühjahr 1949entstanden und zog sich anfänglich mit ihrem Drahtverhau, 500 Wachttürmen und etlichen «vorgetäuschten Bauwerken» entlang der westlichen und der südlichen jugoslawischen Grenze hin. Kurz nach seiner Ernennung zum Außenminister zerschnitt Gyula Horn am 27. Juni 1989 gemeinsam mit seinem Wiener Kollegen Alois Mock Stücke des verrosteten Drahtverhaus und bot damit einen Vorgeschmack auf die Maueröffnung. Angesichts des Zeitpunkts dieser freudigen Zeremonie zu Beginn der Sommersaison konnte man damit rechnen, dass die über die «Tagesschau» ausgestrahlten Bilder ihre Wirkung auf die nach Ungarn reisenden DDR-Bürger kaum verfehlen würden.
Der Eiserne Vorhang markierte keine ausschließlich ungarisch-österreichische Grenze, sondern galt als Demarkationslinie zwischen den beiden Welten. Versuchte ein Bürger aus einem beliebigen Mitgliedsstaat des Warschauer Vertrags die Volksrepublik Ungarn illegal zu verlassen, so machte er sich damit einer Grenzverletzung auch nach der Gesetzgebung des eigenen Landes schuldig. Dementsprechend wurden aufgrund eines Abkommens von 1969 DDR-Flüchtlinge, die von den ungarischen Behörden festgenommen worden waren, den dortigen Organen ausgeliefert. Allein im Jahre 1988 gab es 1088 solcher Pechvögel. Trotz Ungarns Beitritt zur Genfer Konvention wurde diese menschenverachtende Praxis noch bis Ende Mai fortgesetzt, also mit Wissen und Billigung von Miklós Némeths «Reformregierung».
In den Tagen der Massenflucht entfaltete sich unter den Führern der Parteispitze ein sozialistischer Wettbewerb um die Frage, wer von ihnen den Flüchtlingen aus dem Bruderland mehr und schneller helfen würde. Imre Pozsgay und Otto von Habsburg hatten zweifellos die Schirmherrschaft über jenes Paneuropa-Picknick an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich, das den DDR-Bürgern Gelegenheit zum spontanen Überqueren der Grenze gab, selbst wenn sich beide Politiker aus taktischen Gründen von dem Großereignis fernhielten. Eine Aufhebung des immer noch gültigen Schießbefehls sowie eine Entscheidung zur Legalisierung der Ausreise konnten jedoch nur von der Regierung ausgehen, und diese stand theoretisch noch unter der Führung der formal herrschenden Partei. So war es kein Wunder, dass sich Károly Grósz, Gyula Horn, Miklós Németh und Imre Pozsgay über die Urheberschaft dieses europäischen Befreiungsaktes nicht einigen konnten.
V.
B ESCHLEUNIGUNG DER GESCHICHTE
( 1989 )
D ER DRITTE D OMINOSTEIN – DIE DDR
Bis Ende August des Jahres 1989 reisten 733.994 DDR-Bürger nach Ungarn ein – eine absolute Rekordzahl. Auf die Grenzöffnung folgte im August und September noch eine «Nachsaison-Welle». Obwohl nur ein kleiner Teil – insgesamt rund 60.000 Reisende – Ungarn als Transitland auf dem Weg seiner «Republikflucht» betrachtete, löste der Exodus neben den Botschaftsbesetzungen in Warschau, Prag und Budapest die eigentliche Systemkrise aus, die alle Widersprüche des Gemeinwesens DDR auf den Punkt brachte: Die Partei und die von ihr geführte Gesellschaft konnten nicht mehr miteinander leben. Die Flüchtenden ließen sich in einem Land nieder, das ebenfalls Deutschland hieß, als ideologischer Feind galt – und bei dem die DDR gleichzeitig bis zum Hals verschuldet war. Der andere Gegensatz kulminierte darin, dass die Behörden, während sie Anträge auf Reise oder Ausreise mit quälenden Laufzetteln und monatelangen Schikanen ahndeten, kein Problem damit hatten, unbequeme Intellektuelle, die das Land gar nicht verlassen wollten, binnen vierundzwanzig Stunden in Richtung Bundesrepublik Deutschland zu entsorgen.
Neues Kopfzerbrechen bereiteten der SED-Riege diesmal auch die Daheimgebliebenen, die Lüge und Gewalt, Zensur und Bespitzelung nun nicht mehr wie früher kraftlos hinnahmen, sondern selbst vor Demonstrationen nicht zurückschreckten. Selbstverständlich ermunterte sie das Beispiel von Ungarn und Polen, und sie konnten sich bei ihrer Kritik der Missstände auf die Perestroika berufen – erfahrungsgemäß folgte die Führung des «Arbeiter- und Bauernstaates» immerwährend dem
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