Lebt wohl, Genossen!
immer eins zu eins. Auf die fieberhaften Vorbereitungen für das Wochenende des
6.
und 7. Oktobers wiesen höchstens die stadtweiten Verkehrsregelungen hin. Ein Spalier von 30.000 «gesellschaftlichen Kräften» sollte auf den breiten Straßen des Stadtzentrums stehen, um etwaige Demonstrationen oder den Versuch, die Mauer zu durchbrechen, im Keim zu ersticken. Demselben Zweck dienten die zahlreichen Patrouillen der Volkspolizei im Stadtteil Prenzlauer Berg sowie die Schließung der Treffpunkte der Opposition wie z.B. der Gethsemanekirche. Es galt, allen potenziellen Störenfrieden vorbeugend Angst einzujagen.
Diese Angst schwebte bereits seit Wochen über dem Land, verkörpert durch die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking, wo am 4. Juni die Studentendemonstrationen mit Panzern aufgelöst worden waren. Das über die Westmedien allgemein bekannt gewordene Blutbad stärkte die Vorstellung, die in die Ecke getriebene Staatsmacht könnte in der DDR Ähnliches anrichten. Der Glaube an diese Version speiste sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die offizielle DDR die Niederwerfung der «Konterrevolution» in der Volksrepublik China begrüßte hatte und diese Haltung ausgerechnet im Vorfeld des Jubiläums bestätigte, als Egon Krenz zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China Peking besuchte. In Wirklichkeit ging es bei den Verhandlungen während des dortigen «Jubiläums 40» unter anderem um den grotesken Plan, den aufgrund der Massenflucht entstandenen Arbeitskräftemangel in der DDR durch Vertragsarbeiter aus Peking auszugleichen. Außerdem kehrte Honeckers «Kronprinz» bereits damals mit der festen Absicht zurück, seinenChef mithilfe der sowjetischen Freunde so bald wie möglich zu stürzen, um die «führende Rolle» der SED zu retten.
Dies war jedoch nur einem ganz engen Personenkreis bekannt. Am 10. September hingegen erreichte die ganze Bevölkerung über Westmedien das Gründungsmanifest der Oppositionsbewegung «Neues Forum», ein Dokument des Minimalkonsenses, mit seinem berühmt gewordenen ersten Satz: «In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.» Die präzise ausgewogenen Leitsätze dienten einerseits dazu, niemanden abzuschrecken, andererseits gaben sie die tief empfundene Intention der Bürgerbewegung wieder, Veränderungen nicht durch Verschärfung, sondern durch Minimalisierung der Konflikte zu erreichen. So forderte das Neue Forum weder den Rücktritt der Regierung, noch stellte es die Frage nach der Verantwortung für die krisenhafte Situation. Damit erwies es sich im Vergleich zu Solidarność oder der ungarischen Opposition geradezu als idealer Ansprechpartner für einen etwaigen Runden Tisch. Allerdings hatte die SED-Führung vor diesem Möbelstück mehr Angst als vor der nächsten Montagsdemo am 9. Oktober in Leipzig. Offensichtlich hatte die völlig unangemessene Brachialgewalt anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten am 7. und 8. Oktober die Moral der Sicherheitskräfte gestärkt. Sie waren erbost, dass es den Vertretern der Zivilgesellschaft trotz des «Spaliers der gesellschaftlichen Kräfte» gelungen war, einen Protestmarsch im Stadtzentrum zustande zu bringen.
Unter dem Schutz von Gummiknüppeln und Tränengas hatte das Jubiläum scheinbar erfolgreich stattgefunden. Gorbatschow stand auf der Tribüne und hörte die Rufe der Protestdemonstration: «Gorbi, hilf uns!», was Honecker offensichtlich nicht als eine Meinungsäußerung gegen seine eigene Person verstehen wollte. Vielmehr rühmte er sich bei dem abendlichen Empfang für die ausländischen Delegationen gegenüber den polnischen Gästen mit seiner technischen Errungenschaft, einem Mikroprozessor. Außer den Polen und Ungarn waren alle anwesenden Repräsentanten des Ostblocks der Meinung, sie selbst hätten keine so gravierenden Probleme wie die DDR. Der tschechoslowakische Parteichef Milouš Jakeš dachte, solange der Fleischkonsum in seinem Land 90 Kilogramm pro Einwohner nicht unterschreite, müsse man keine Angst vor der Charta 77 haben. Er machte sich nur wegen der Unzahl verlassener Trabis Sorgen, die in der Prager Innenstadt ein Verkehrschaos auslösten. Der bulgarische Diktator Todor Schiwkow rügte in einem Privatgespräch sogar die DDRund gab den Genossen den Rat, die Mauer doch lieber niederzureißen. Nicolae Ceauşescu saß da mit versteinertem Gesicht und fühlte sich durch die Krise in den Nachbarländern voll im Recht. Er
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