Lebt wohl, Genossen!
Moskauer Vorbild. «Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen» lautete der offizielle Slogan, und nun war es Gorbatschow, der ein neues Kapitel im Lehrbuch aufgeschlagen hatte.
Einsamer DDR-Schlafsacktourist am See – 60.000 gingen über die Grenze
M ASSENFLUCHT UND S TAATSKRISE
Die Fluchtbewegung verpasste der ohnehin schwachen Infrastruktur der DDR einen empfindlichen Schlag. Plötzlich fehlten allerorten Ärzte, Krankenschwestern, Kellner und Facharbeiter. Diese Tatsache bewog Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, zu der Einsicht, dass man nach den konkreten Ursachen für den Exodus suchen müsse. Auf einer streng vertraulichen Dienstbesprechung der Bezirksleiter seiner Firma sagte er: «Ein großer Teil derer, die jetzt weggehen, sind große Drecksäcke. Das ist wirklich so. Ich übertreibe vielleicht etwas damit. Aber trotzdem ist das ein Unterschied. Die Anzahl, die da weggeht, das ist empfindlich. Auch wenn es so miese Säcke sind, die da weggehen, bleibt die Tatsache, dass Arbeitskräfte weggehen.»
Weniger einsichtsvoll zeigten sich die offiziellen Stimmen, wie jene von Wolfgang Meyer, Pressesprecher im Außenministerium, dessen Erklärung am 2. Oktober die Öffentlichkeit erreichte: «Die Regierung der DDR ließ sich davon leiten, dass jene Menschen bei Rückkehr in die DDR, selbstwenn das möglich gewesen wäre, keinen Platz mehr im gesellschaftlichen Prozess gefunden hätten. Sie haben sich selbst von ihren Arbeitsplätzen und von den Menschen getrennt, mit denen sie bisher zusammen lebten und arbeiteten. (…) Hinzu kommt, dass sich nach bisherigen Feststellungen unter diesen Leuten auch Asoziale befinden, die kein Verhältnis zur Arbeit und auch nicht zu normalen Wohnbedingungen haben. Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.»
Um die Haltung von Vater Staat gegenüber seinen verstoßenen Kindern zu verdeutlichen, erschien gleichzeitig eine in Petit gesetzte Nachricht: «Wohnungen ehemaliger DDR-Bürger werden umgehend neu vergeben. Den örtlichen Organen wird anheimgestellt, frei gewordene Wohnungen umgehend an neue Mieter, die daran Interesse haben, zu übergeben.» Diese scheinbar «soziale Maßnahme» war gut geeignet, Öl ins Feuer zu gießen. Gleichzeitig strotzten die Medien vor Erfolgspropaganda: Der britische Verleger Maxwell hatte ein Buch über die DDR veröffentlicht und das erste Exemplar persönlich dem SED-Chef geschenkt, während gleichzeitig der oberste Spielleiter des Friedrichstadt-Palastes und die Puhdys den Goethe-Preis der Hauptstadt erhielten. Der technische Fortschritt wurde sichtbar durch einen 1-Megabit-Schaltkreis der Firma Robotron, den man sich im Museum für Deutsche Geschichte durch ein Mikroskop anschauen konnte. Die Gesellschaft der Siebenten-Tags-Adventisten bedankte sich bei Erich Honecker für die Möglichkeit, in der DDR Gotteshäuser bauen zu können. Die kleine Kirche überlegte in ihrer Grußadresse, «wie man durch helfende Antworten noch stärker dazu beitragen könne, dass jedem Bürger des Landes die DDR zur Heimat wird, in der er sich wohl und geborgen fühlt».
«J UBILÄUM 40»
Man handelte improvisierend und kopflos, wohl ahnend, dass das System kaum, bestenfalls sein Jubiläum zu retten war. «Jubiläum 40» lautete auch der nicht besonders fantasievoll kodierte Sicherungsplan des Ministeriums für Staatssicherheit für die Feierlichkeiten – für den Festakt im Palast der Republik, die Parade der Volksarmee, den Fackelzug der FDJ und denEmpfang der 4000 Ehrengäste, unter ihnen Parteichefs wie Ceauşescu, Schiwkow und Jakeš, vor allem jedoch der Hauptgast, dem man imponieren wollte: Michail Gorbatschow aus Moskau. Um die Spannungen außerhalb des Landes zu mildern, erlaubte man den Flüchtlingen in der Prager Botschaft, also denjenigen, denen man «keine Träne nachweinen sollte», möglichst schnell in die Bundesrepublik auszureisen. Diese Geste erwies sich als Eigentor, denn sie löste eine neue Welle von Touristenreisen nach Prag aus, und viele Menschen in Dresden stürmten den Hauptbahnhof während der Zug der Freigelassenen passieren sollte. Daraufhin führte die DDR-Regierung die Visapflicht für Reisen in die ČSSR ein.
Alles sollte Normalität ausstrahlen, als sei die Republik unerschütterlich wie der Wechselkurs von Ost- und Westmark, laut Mitteilung der Staatsbank der DDR wie
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