Lebt wohl, Genossen!
Scheck über zehn Milliarden Dollar mitder Widmung erwartet: Dem tapferen polnischen Volk in Dankbarkeit, George Bush.» Und er schilderte eingehend die kolossale Verschuldung seines Landes. Nachmittags in Danzig schlug Rakowskis Erzfeind Wałęsa in dieselbe Kerbe. Zehn Milliarden Dollar, über drei Jahre verteilt, seien notwendig, sonst breche die Hölle los, meinte der Arbeiterführer.
Zum unvermeidlichen Eklat kam es, als der Bush-Begleiter John H. Sununu, Gouverneur von New Hampshire, in einem Interview erklärte, man müsse mit den großzügigen Krediten aufpassen, sonst benehme sich Polen «wie ein Kind in einem Süßwarenladen». Der sicher nicht böswillige Politiker traf mit dieser Bemerkung eine empfindliche Stelle der Osteuropäer, das Kleinkarierte im Großartigen, die Mentalität einer Bananenrepublik, die in ihren Staaten oft zu finden war. In der Tat stellten sich die von der Diktatur befreiten ehemaligen Ostblockstaaten voller infantiler Hoffnungen, die Hand aufhaltend, in die Warteschlange vor der Tür zu ihrer Zukunft.
So brachten Polens erste halb freie Wahlen einen sichtbaren Durchbruch der Opposition im Sejm und einen absoluten Triumph im Senat. Die neue Regierung führte, wie von Michnik vorgeschlagen, zum ersten Mal seit 1947 ein Nichtkommunist: Tadeusz Mazowiecki. Präsident der Republik blieb zunächst General Jaruzelski. Damit war eine Pioniertat vollzogen und der Weg in die demokratische Gesellschaft eröffnet. Es war äußerst wichtig, dass der Prozess bis dahin friedlich verlaufen war – vor allem, dass die befürchtete Einmischung der Sowjetunion, die bisher alle Reformhoffnungen in Osteuropa zum Scheitern verurteilt hatte, diesmal ausblieb.
D ER ZWEITE D OMINOSTEIN – U NGARN
Das polnische Beispiel war wie eine Aufforderung zur Nachahmung. In Warschau war ein Drehbuch geschrieben worden, dem anderswo entsprechend gefolgt werden konnte – je nachdem, wie reif der Konflikt zwischen Staat und Zivilgesellschaft in den einzelnen Staaten war. Zweifelsohne bot sich Ungarn als Schauplatz der nächsten politischen Auseinandersetzung an. Ging es in Polen ursprünglich um die «Rehabilitierung» der Solidarność, so entfaltete sich in Ungarn die Konfrontation um ein Ereignis, das schon viel länger zurücklag.
Wie eine politische Bombe erschien ein Interview mit Imre Pozsgay im Budapester Rundfunk in der letzten Januarwoche 1989. Auf die Frage des Reporters, wie die vom ZK der Partei beauftragte, von ihm geleitete Historikerkommission die Ereignisse des Oktobers 1956 beurteile, antwortete der Politiker: «Nach dem jetzigen Forschungsstand betrachtet die Kommission das, was 1956 geschah, als einen Volksaufstand, als einen Aufstand gegen eine oligarchische und die Nation demütigende Herrschaftsform. (…) Die Politik denkt in letzter Zeit anders über 1956. (…) Das summarische Urteil, das alles, was 1956 geschah, mit einem einzigen Wort als Konterrevolution qualifiziert, spiegelt die Gesinnung in der Öffentlichkeit und eines Teils der Parteimitglieder wider. (…) Dieser Ausdruck aber behält aufgrund der bisherigen Forschungen offensichtlich nicht seine Rchtigkeit.»
Damit war der Weg zur Rehabilitierung von Imre Nagy und seinen Kampfgefährten offen. Die Familienangehörigen der Opfer und das Komitee zur Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit forderten die Neubestattung der Toten, unter ihnen auch etwa hundert junge Aufständische, die namenlos verscharrt worden waren. Zwei erschütternde Filmdokumente bieten einen atmosphärischen Einblick in die Vorbereitungen zur Beerdigung und Rehabilitierung von Teilnehmern der in Ungarn als Revolution geltenden Oktober- und Novembertage von 1956. Das erste zeigt die Exhumierung der sterblichen Überreste der Opfer, das zweite eine von der Staatssicherheit verfertigte Aufnahme über die Verkündung des Todesurteils von Nagy und Mitangeklagte 1958, die man erst im Mai 1989 im ungarischen Fernsehen zeigte.
Der pietätvolle Akt der Wiederbestattung wurde am 16. Juni auf dem Budapester Heldenplatz und dem Friedhof Kerepes vollzogen. Die Zahl der Teilnehmer an der Trauerkundgebung schätzte man auf 300.000 Menschen.
K ÁDÁRS T OD
Im Fall von János Kádár bekam der Abschied von der Epoche Ähnlichkeiten mit dem klassischen Königsdrama. Anfang April identifizierten die Familienangehörigen ihre Toten auf dem Budapester Kerepes-Friedhof, Parzelle 301. In einer Reportage am Ort des Geschehens fragte die Journalistinden mit der Exhumierung
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