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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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selbst habe bereits Ende August gegen die polnische Regierungsbildung gemeinsam mit der Solidarność in einer diplomatischen Note protestiert. Die kleinen Pharaonen hatten nicht die leiseste Ahnung, dass ihnen nur noch weniger als zwei, drei Monate ihrer Macht übrig blieben und dass ihr Thron bald einstürzen würde.
    Egon Krenz hingegen nutzte den Anlass, Valentin Falin am Rande des Empfangs ungeschminkt seine Enttäuschung über Honeckers soeben gehaltene Festrede mitzuteilen. Falin war Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, ein Mann, auf den die sowjetische Nummer eins in allen deutschen Fragen vorbehaltlos hörte. So konnte dieser Anfall von Ehrlichkeit als Weichenstellung zu baldigen Veränderungen gedeutet werden. Wichtig war vor allem, die zwei darauffolgenden Montage in Leipzig, den 9. und den 16. Oktober, gewaltfrei über die Bühne zu bringen. Dazu musste der scheinbar arglose Erich Honecker selber beitragen, als er am Vorabend des zweiten Montags den für ihn eher untypischen «Befehl Nr. 9/1989» unterzeichnete: «Der Einsatz der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.» Inzwischen war Honeckers bevorstehende «Abdankung» in aller Munde. Die
Bild-Zeitung
titelte bereits am 11. des Monats: Der 18. Oktober soll Erich Honeckers letzter Arbeitstag sein! Nur der Betroffene selbst will nichts davon geahnt haben.
H ONECKERS S TURZ
    Nach Honeckers Sturz am 17. Oktober beschleunigten sich die Ereignisse. Die Protestkundgebungen mit ihren Forderungen nach Demokratie, zunächst noch im Rahmen des bestehenden Systems, zogen immer mehr Menschen an und erstreckten sich nunmehr auf die ganze Republik. Es entstand eine Parteienlandschaft, die bereits nicht mehr auf die offizielle Genehmigung seitens der Herrschenden angewiesen war. Trotzdem trugen die beiden größten Massendemonstrationen – am 23. Oktober 1989 in Leipzig und am 4. November in Berlin – nur atmosphärisch zur Demokratisierung bei. Das Machtmonopol der SED blieb intakt, die Wachablösungenim Apparat (Abdankung von Willy Stoph, Harry Tisch und Margot Honecker) waren rein kosmetischer Natur. Das MfS warb noch aktiv um Spitzel und machte ihnen erstaunliche Geschenke. Die Änderungen geschahen im Geiste der zwischen Krenz und Gorbatschow in Moskau festgelegten Agenda, lösten aber vor allem die empfindlichste und schmerzhafteste Frage nicht: Das Flüchtlingsproblem klaffte wie eine unversorgte Wunde am Körper der Gesellschaft.
    Ein in Eile veröffentlichter Entwurf des Reisegesetzes am
6.
November löste wegen seiner restriktiven Formulierungen allgemeine Empörung aus. Es wurde klar, dass der tief verschuldete Staat über keinerlei Mittel zur Finanzierung der Reisefreiheit verfügte. Man schickte den Devisenbeschaffer und Geheimdiplomaten Schalck-Golodkowski auf den Weg nach Bonn, von wo aus er mit der Botschaft des Bundeskanzlers zurückkehrte, jegliche Unterstützung sei mit der ultimativen Forderung gekoppelt, dass «die SED auf ihr absolutes Führungsmonopol verzichtet (…) Unter diesen Bedingungen hält der Bundeskanzler vieles für machbar und möglich.» Ein paar Tage zuvor hatte noch Egon Krenz auf einer Pressekonferenz behauptet, er würde alles tun, damit «der in der Verfassung verankerte Führungsanspruch der Partei» realisiert werde. Nun platzte Kohls Ultimatum in das Geschehen hinein. Wie sollten die SED-Oberen nun verfahren, um endlich vor dem nächsten und übernächsten Montag, vor Berlin und Leipzig, vor den Flüchtlingen und Pfarrern, Schriftstellern und Dissidenten und letztendlich sogar vor sich selbst Ruhe zu haben? Das Einzige, was sie noch in die Waagschale werfen konnten, war die Mauer.
    Während das darauf folgende ZK-Plenum am 9. November die «führende Rolle der Partei» ausdrücklich nicht auf seine Tagesordnung setzte, eilte von dort aus der Berliner Parteichef Günter Schabowski in das Internationale Pressezentrum, um den Journalisten ihre Fragen zu beantworten. In seiner Jackentasche trug er einen Zettel, den ihm Krenz beiläufig zugeschoben hatte. Den Text las er dann leicht stotternd, quasi selber überrascht vor. Es ging um die sofortige Möglichkeit, nur mit dem Personalausweis private Reisen in die Bundesrepublik beantragen zu dürfen. Weder Reiseanlässe noch Verwandtschaftsverhältnisse sollten angegeben werden. Auf die Frage eines italienischen Journalisten, ab wann diese Möglichkeit bestehe, antwortete er mit knapp zwei Worten: «Ab

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