Lebt wohl, Genossen!
Ereignisse schienen dem Diktator keine allzu großen Sorgen zu bereiten. Die letzten August- und die ersten Septembertage verbrachte er in Ewsinograd, einem für die Öffentlichkeit gesperrten Erholungszentrum für die höchsten Parteifunktionäre. Dort besuchte ihn der damalige Parteichef der bereits ihrer Monopolmacht verlustig gegangenen polnischen KP, Mieczysław Rakowski. Der Besucher erinnert sich an die merkwürdige Idylle in einem Staat, der auf dem Vulkan tanzte:«Die Villa, die ich mit meiner Frau bewohnte, lag in einem wunderschönen Park voller alter Bäume. Im Mittelpunkt der Anlage stand ein Sommerpalast, erbaut vom bulgarischen Zaren Alexander I. Jeder Gast hatte außerdem noch direkt am Strand einen eigenen Bungalow zur Verfügung. Dort konnte man sich umkleiden, eine Coca-Cola oder auch etwas Stärkeres trinken. Auf dem Tisch stand eine Silberschale mit frischem Obst. Es gab dort einen überdachten Swimmingpool, einen Fitnessraum, ein Café – kurzum: Luxus auf hohem Niveau.» Der Gastgeber sprach mit seinem polnischen Genossen über andere Ostblockstaaten. ‹«Ich will mich nicht in eure inneren Angelegenheiten einmischen›, sagte er, ‹aber ich bin sehr besorgt wegen der Situation in Polen, Ungarn und der UdSSR. › Besonders scharf kritisierte er die DDR: ‹Das, was sie mit ihren Bürgern machen, ist glatter Unsinn. Sollen sie doch die Mauer abreißen! Es gehe jeder, der will.› Die Lage bei sich selbst beurteilte Schiwkow mit sichtbarer Ambivalenz. Einerseits sei diese ‹nicht gefährlich›, gleichzeitig aber auch ‹nicht besonders gut›. Und nach einer Weile fügte er hinzu: ‹In Bulgarien kann es zu ebensolchen Ereignissen kommen wie in Polen. › Hätte er gewusst, wie nah diese Ereignisse waren!»
P ALASTREVOLUTION IN S OFIA
Eine der populärsten und bekanntesten Persönlichkeiten Bulgariens war zu dieser Zeit die Seherin Ewangelia Guschterowa, alias Baba Wanga, eine blinde Bäuerin, die in Petritsch nahe der jugoslawischen Grenze wohnte. Sie durfte ihren für ein sozialistisches Land recht exotischen Beruf frei ausüben, ihr Dorfhaus galt sogar als Touristenmagnet. Die Befriedigung ihrer Zukunftsneugier kostete Inländer 100 Lewa und westliche Besucher 50 Dollar, während Frau Guschterowa als Staatsangestellte monatlich 200 Lewa verdiente. Sie behauptete, mit einer Treffsicherheit von 80 Prozent, Hitlers Tod, Stalins Tod, Kennedys Ermordung, den Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrags in die ČSSR, die Perestroika und selbstverständlich die Katastrophe von Tschernobyl vorhergesehen zu haben. Allerdings hielt sie sich mit Äußerungen über bulgarische innenpolitische Themen zurück.
War Baba Wanga als eine blinde Seherin bekannt, so erscheint Schiwkow im Nachhinein als derjenige, der gar nichts sehen konnte. Obwohlkeineswegs mit Blindheit geschlagen, konnte und wollte er das Ausmaß der Krise in seinem Land nicht wahrnehmen. Als er aus Berlin nach Sofia zurückkehrte, ahnte er bereits, dass sein Thron ins Wanken geraten war. Angst hatte er jedoch nicht vor den zahlenmäßig schwachen Gruppen der Opposition, die, wie er sagte, «über keine Klassenbasis und keine soziale Position» verfügten. Auch seine Rivalen an der Machtspitze fürchtete er nicht besonders, denn er taktierte geschickt zwischen den Machtfraktionen und trickste die eine Seite gegen die andere aus. Seine wirkliche Besorgnis galt dem neuen sowjetischen Botschafter, dem KGB-General Wiktor Scharapow, der eindeutig mit Gorbatschows Mandat nach Sofia kam. Sein Auftrag bestand darin, die Perestroika in Bulgarien voranzutreiben, aber es war auch nicht auszuschließen, dass er Schiwkow isolieren und seinen Sturz, moderat ausgedrückt, nicht verhindern sollte. So blieb nur noch die Frage, wer Moskaus Mann war, das heißt, wen das ferne Politbüro in Bulgarien an der Spitze sehen wollte.
Dabei handelte es sich um den Außenminister Petar Mladenow, der unlängst noch auf seinen Auslandsreisen die Massenvertreibung der türkischen Minderheit mit dem zynischen Argument verteidigt hatte, Bulgarien wende lediglich die Schlussakte von Helsinki an. Nun schrieb er am 24. Oktober einen Brief an das ZK und lehnte darin den autoritären Führungsstil seines Chefs ab. Am nächsten Tag erschien er aus vorgetäuschten «Gesundheitsgründen» nicht auf der Sitzung des Politbüros, auf deren Tagesordnung die neue Phase der «Bulgarisierungskampagne» stand. Außerdem sagte er seine Teilnahme an einem Gespräch mit dem
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