Lebt wohl, Genossen!
Situation auch in den engen Gässchen der Kleinseite. Auf den Parkplätzen, am Rand der Straßen, ja selbst auf den Bürgersteigen stehen Hunderte von Pkws mit DDR-Kennzeichen und erschweren den städtischen Verkehr. (…) Die Menge vor dem Botschaftsgebäude erschwert das Passieren der Vlašskástraße, die gleichzeitig ein Zufahrtsweg zum Krankenhaus in Petřín ist und außerdem zu weiteren Amtsgebäuden und Wohnhäusern führt. (…) Die Zugangswege zum Haupteingang der Botschaft sind frei, die Sicherheitsorgane kontrollieren ausschließlich die Wahrung der öffentlichen Ordnung.» Fügen wir hinzu: Das Gebäude und der Garten der Botschaft waren zum Bersten voll mit DDR-Bürgern, unter ihnen Hunderte von Kleinkindern. Noch schlimmer als dieser hygienische Ausnahmezustand war dann für die Machthaber in der ČSSR dessen Beendigung, als Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon des Lobkowicz-Palais aus erklärte, die DDR-Regierung erlaube den Flüchtlingen, über die ČSSR in den Westen auszureisen. Darauf folgten die Maueröffnung und der Sturz des bulgarischen Parteichefs.
Gegen Mitte November musste sich Jakeš wie der Letzte aller Mohikaner fühlen, hätte es nicht noch den rumänischen Despoten Ceauşescu gegeben, der sich auch ohne oder sogar gegen Moskau an der Macht halten wollte. So etwas konnten sich die tschechoslowakischen Genossen nicht erlauben: Sie wussten wohl, dass die 80.000 im Lande stationierten Sowjetsoldaten die einzigen Garanten ihrer Macht waren. In tiefer Verzweiflung schickte Jakeš den Chefideologen der Partei, Jan Fojtik, nach Moskau, um in Gorbatschows direktem Umfeld Unterstützung zu bekommen. Diese wurde ihm jedoch strikt verweigert, was den Emissär zu dem Ausbruch veranlasste: «Was habt ihr eigentlich mit uns vor? Wollt ihr uns über Bord werfen? Wenn ja, dann sagt das gleich. Wir waren immer von irgendwem abhängig, unsere Souveränität ist ein relativer Begriff. 300 Jahre gehörten wir zu den Habsburgern, 20 Jahre waren wir abhängig von Frankreich und England, und als uns unsere berühmten Alliierten imStich ließen, nahmen uns die Deutschen ein. Nun waren wir 40 Jahre lang unter euch, aber wenn ihr uns loswerden wollt, so reicht ein Wort. Nur könnt ihr sicher sein, dass wir dann mit der Krone des heiligen Wenzel zu den Westdeutschen gehen …»
Die samtene Revolution 1989: Straßendemokratie
D ER 17. N OVEMBER
Dies geschah am 17. November 1989, und am Abend desselben Tages, als der Spitzenfunktionär mit dem Regierungsflugzeug nach Prag zurückkehrte, war dort bereits die Hölle los. Zum Gedenken an den tschechischen Studenten Jan Opletal, den die deutschen Besatzer am 17. November 1939 ermordeten, fand die traditionelle Kundgebung der Jugend statt – diesmal nicht nur gegen den Faschismus, sondern auch direkt für Demokratie. Man erinnerte sich auch an einen anderen jungen Mann, Jan Palach, der sich 20 Jahre zuvor aus Protest gegen die Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten auf dem Wenzelsplatz öffentlich verbrannt hatte. Etwa 10.000 Demonstranten zogen mit Blumen und Kerzen am Moldaukaientlang Richtung Stadtzentrum. Am Nationaltheater bogen sie in die Narodni třída, die Nationalstraße, ein und wollten über diese nun verkehrsfreie Renommiermeile ins Stadtzentrum gelangen. Die schöne, schmale třída mit ihren Warenhäusern und Läden füllte sich allmählich mit Jugendlichen und erwies sich plötzlich als Falle. Es war bereits Abend, und als die Sondereinheiten des Innenministeriums die von allen Seiten eingekesselte Menge mit Gummiknüppeln, Schlagstöcken und Wasserwerfern angriffen, brach Panik aus. Die Polizisten, so berichtete einer der vielen Augenzeugen, «begannen wahllos loszuschlagen, auf Köpfe, in Gesichter, auf Bäuche, auf liegende Menschen. (…) Als ich damals gegen 22 Uhr wieder auf die Narodni ging, bot sich mir ein unheimliches Bild: In der menschenleeren Straße liefen vereinzelt verstörte Studenten herum und murmelten etwas von einem Massaker.»
Erinnerungstafel im Studentenviertel, Prag, Albertor: «Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?»
Anderentags brach ein unbefristeter Streik der Schüler und Studenten aus, dem sich die Theaterleute anschlossen. In der nächsten Woche erfolgten Dauerkundgebungen am Wenzelsplatz, man forderte die Untersuchung der polizeilichen Übergriffe, und es herrschte revolutionäre Stimmung. Die führenden Persönlichkeiten des Bürgerforums, vor allem dasIdol Václav Havel und der nach
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