Lebt wohl, Genossen!
ÜNDE
Am 9. Mai erließ die Sofioter Nationalversammlung ein neues Passgesetz, dem zufolge ab dem 1. September 1989 jeder bulgarische Staatsbürger frei ins Ausland und auch wieder zurück reisen durfte. Das liberale, «Helsinkigerechte» Gesetzeswerk sollte, scheinbar unlogisch, erst nach der Urlaubssaison am 1. September in Kraft treten. Zunächst dachte man an ein Propagandamanöver, mit dem der Balkanstaat, der neben Rumänien den vielleicht schlechtesten Ruf im Westen hatte, für sich ein paar Pluspunkte sammeln wollte. Unerwartet hielt jedoch am 20. Mai Parteichef Schiwkow in den Abendnachrichten eine Fernsehrede, die den Hintergrund der staatlichen Großzügigkeit aufklären sollte. Er klagte das Nachbarland Türkei an, die türkische Minderheit in Bulgarien gegen den Staat aufzuhetzen, und fügte hinzu: «Aus diesem Anlass möchte ich mich im Namen der bulgarischen Muslime (sic) und in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Staatsrates sehr eindringlich an die entsprechenden türkischen Machthaber wenden: Öffnen Sie die Grenzen für jeden bulgarischen Muslim, der zeitweilig in die Türkei gehen möchte oder dort bleiben und lebenmöchte. Die Türkei soll ihre Grenzen öffnen für die Welt, im Einklang mit den internationalen Normen und Verträgen, wie es auch die Volksrepublik Bulgarien macht …»
Bulgarien, wie es die Postkarten zeigen wollten: Sonne und Meer für Westwährung
Nach dieser beispiellosen Rede, in der ein Staatschef Hunderttausende von Einwohnern seines Landes praktisch einem anderen Staat überließ, war es kein Wunder, dass «bulgarische Muslime» die Passämter stürmten, zumal ihnen die lokalen Behörden diesen Schritt nahegelegt hatten. In den darauf folgenden Wochen passierten 350.000 Auswanderer die völlig überforderten Grenzübergänge Kapikule und Dereköy bei brütender Hitze mit Autos, Bussen, Pferdekutschen oder zu Fuß, mit wenigen Habseligkeiten, pro Person 500 Lewa in der Tasche, etwas weniger als 100 DM. Mit dieser unmenschlichen Massenvertreibung wollte das Regime die Mehrheit der Türken und Pomaken loswerden, nachdem diese gegen die Zwangsbulgarisierung ihrer Namen und das Verbot ihrer nationalen und religiösen Kultur protestiert hatten. Einer der möglichen Beweggründe des Diktators kann die Geburtenrate der türkischen Bevölkerung gewesen sein, die bedeutend höher als die aller anderen ethnischen Gruppen war.
Dieser Massenexodus hatte neben diplomatischen Komplikationenund erheblichem Imageverlust schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft. Die mit vorwiegend türkischen Arbeitskräften betriebene, Devisen einbringende Tabakindustrie drohte völlig zu kollabieren. In der Baubranche, dem Transportwesen und in der Lebensmittelindustrie fehlten plötzlich Hilfsarbeiter – und, was am bedrohlichsten war, die Ernte schien trotz der günstigen Wetterlage zu einer Katastrophe zu werden. Merkwürdigerweise verschwand eine Unzahl von 20- und 50-Lewa-Scheinen aus dem Verkehr, sodass man sich gezwungen sah, neue Münzen in diesem Wert zu prägen – ein Schritt, der den Startschuss zur Rekordinflation der Neunzigerjahre gab. Schließlich veröffentlichte der Staatsrat der Volksrepublik einen Erlass zu «Maßnahmen zur Bereitstellung von Arbeitskräften in außergewöhnlichen Situationen», was im Klartext bedeutete, dass Männer und Frauen ab dem 18. Lebensjahr zu einem Arbeitsdienst mobilisiert werden konnten – ein Zeichen des ökonomischen Notstands. Die wegen der nachlassenden Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion und der westlichen Verschuldung marode Wirtschaft war außerstande, die wachsenden Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.
Eine andere, ökologische Katastrophe drohte dem Balkanland schon länger. Die Donau, nördlicher Grenzfluss des Landes, wurde von einer rumänischen Chemiefabrik verpestet. Ein Kupferaufarbeitungsbetrieb in der Kleinstadt Srednogorje leitete 16.000 Tonnen Arsenschlamm ungefiltert in einen nahe gelegenen See, und das sozialistische Metallwerk «Dimitar Blagoew» am Stadtrand von Plowdiw vergiftete Boden und Luft, sodass Blutuntersuchungen an Kindern eine ärztlich nicht mehr vertretbare Bleikonzentration aufwiesen. Stickstoff, Abwasser und Abgase gefährdeten Tag um Tag die Qualität menschlichen Lebens. Kein Wunder, dass diese Problemlage eine erste Protestbewegung hervorbrachte – das «Komitee zur Rettung der Stadt Russe» 1987 und zwei Jahre später die Gruppe «Ökoglasnost».
All diese dramatischen
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