Lebt wohl, Genossen!
Prag eingeflogene Aleksander Dubček, sprachen zu den versammelten Menschen. Die von der Bühne verbannte Sängerin Marta Kubišová, Sprecherin der Charta 77, durfte zum ersten Mal seit Jahren ihr verbotenes Lied aus dem Jahr 1968 vortragen. «Friede sei mit diesem Land,/Ärger, Neid und Streit verbannt./Volk, du hast die Macht erlangt,/nimm dein Los in eigne Hand…», schwamm die wohlbekannte Melodie über den eiskalten Platz. Eine Woche der Straßendemokratie reichte aus, um der Diktatur das Rückgrat zu brechen. Zeitgleich fanden Demonstrationen in der slowakischen Hauptstadt Bratislava und Tausenden von kleineren Ortschaften der Republik statt. Die Menge blieb friedlich, ihre einzigen «Waffen» waren Spielzeugglöckchen, deren Läuten die Machthaber mahnen sollte, dass ihre Zeit vorbei sei. Auf einem außerordentlichen Kongress der KP wurde die ganze Führung abgelöst, und der neue Vorstand erklärte seine Bereitschaft zu Verhandlungen am Runden Tisch mit den Vertretern des Bürgerforums. Einen Monat später wurde Havel im Spanischen Saal des Hradschin zum Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik und Dubček zum Vorsitzenden der Nationalversammlung gewählt. Das noch von den Kommunisten dominierte Parlament fasste mit absoluter Mehrheit der Stimmen den Beschluss, die führende Rolle der KP aus der Verfassung zu streichen.
D ER SECHSTE D OMINOSTEIN
Als am 4. Dezember 1989 das letzte Treffen der Parteichefs der Warschauer-Pakt-Staaten in Moskau stattfand, begrüßte Michail Gorbatschow nur einen einzigen Gast, der noch als Kommunist über die reale Macht in Osteuropa verfügte: den rumänischen Staats- und Parteichef Nicolae Ceauşescu. Bei diesem Treffen forderte Gorbatschow die Teilnehmer auf, die Intervention des Warschauer Vertrags 1968 gegen die ČSSR zu verurteilen, und der rumänische Führer lächelte zufrieden: Sein Land hatte dies bereits zu Beginn der Invasion getan. Und nun war er der Einzige, dem der Kremlherr anderthalb Stunden Zeit für ein Gespräch gewährte. Laut Schilderung eines Augenzeugen verlief dieser Diskurs aber alles andere als freundlich. Der letzte Mohikaner des Ostblocks machte Gorbatschow schwere Vorwürfe wegen «Verrats» an den osteuropäischen Satelliten. Beide Politiker brüllten sich gegenseitig an, der Conducator warf sein mitChampagner gefülltes Glas zu Boden, verließ empört den Verhandlungssaal und fuhr direkt zum Flughafen. Gorbatschow bemerkte sarkastisch im Kreis seiner Berater: «Für Nicolae wird es böse enden.» Dies war ihre letzte Begegnung.
D ER T ERMINKALENDER DES D IKTATORS
Der «Titan der Titanen» ließ sich noch einmal, auf dem XIV. Kongress der rumänischen KP, mit «stehenden, lang anhaltenden Ovationen» feiern. In den letzten Monaten seiner Regentschaft fühlte er sich keineswegs wie ein isolierter Desperado, sondern sah sich auf dem Höhepunkt seines Ruhmes – ein weltweit beachteter Staatsmann. Entsprechend dicht war sein Terminkalender:
6. Oktober
Besuch in Berlin zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR
7. Oktober
Treffen mit Honecker und Schiwkow
9. Oktober
Empfang von Yassir Arafat
13. Oktober
Empfang von Margot Honecker
19. Oktober
Empfang des iranischen Botschafters
23. Oktober
Empfang der Vertreter Zyperns
3. November
Elena Ceauşescus Buch erscheint in Syrien
10. November
Ceauşescus Buch erscheint in Tansania
11. November
Empfang des chinesischen Außenministers
16. November
Interview für die Nachrichtenagentur Prensa Latina
18. November
Interview für kuwaitische Zeitungen
22.–24. November
XIV Parteitag der KP Rumäniens
27. November
Interview durch einen Journalisten aus Nigeria
4. Dezember
Besuch in Moskau, Treffen mit Gorbatschow
5. Dezember
Empfang des nordkoreanischen Außenministers
17. Dezember
Interview für die Zeitung
Teheran News
18. Dezember
Abflug nach Teheran
Schlechte Nachrichten erreichten ihn allerdings am Samstag, dem 16. Dezember, aus der Stadt Temesvar an der jugoslawischen Grenze. Dort verhinderteeine protestierende Menge die bereits beschlossene Aussiedlung des Geistlichen László Tőkés vor dessen Haus. Obwohl die geplante Verschleppung in eine weit entfernte Pfarrei in den frühen Morgenstunden durchgeführt wurde, konnte die Ordnung in der Stadt nicht mehr wiederhergestellt werden. Daraufhin kommandierte man Militäreinheiten in die Stadt an der Bega, die man gleichzeitig von der Außenwelt isolierte. Ceauşescu bereitete sich auf die seit Langem
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