Lebt wohl, Genossen!
türkischen Außenminister ab. Diese Sabotage brachte die Führung in eine sehr prekäre Lage. Schiwkow lenkte zunächst ein, der Brief wurde nicht erörtert, und Mladenows Mission führte nach Peking, wobei er am Rande der Verhandlungen mit der chinesischen Führung «ergänzende Kontakte» wohl mit sowjetischen Diplomaten, wenn nicht telefonisch direkt mit Moskau gepflegt haben soll. Schiwkow ahnte Böses und bat Scharapow, in Moskau Konsultationsbedarf anzumelden. Der Kreml wollte jedoch diesmal seinen ältesten osteuropäischen Partner nicht sprechen.
So verlief die Sitzung des Politbüros, auf der Schiwkows Abdankung «aus Alters- und Gesundheitsgründen» mehrheitlich angenommen wurde, friedlich. «Nach der Sitzung», so erzählt der Kanzleichef Tschakurow in einem späteren Interview, «zog sich Todor Schiwkow ins Kabinett zurück, und Petar Mladenow, Dobri Dschurow (Verteidigungsminister), GeorgiAtanassow (Ministerpräsident), Andrej Lukanow (Minister für Außenwirtschaft) und andere gingen zu ihm. Todor Schiwkow bestellte Cognac und Wein, Petar Mladenow trank Whisky, die anderen hielten sich an Wein und Salami. Man sagte ihm, dass man sich auch in Zukunft sehen und gemeinsam Kaffee trinken werde. Derart zivilisiert, ruhig und ohne Exzesse verlief vor meinen Augen der 9. November 1989.» Ob sie an diesem Abend noch der taufrische Bericht über den Berliner Mauerfall erreicht hat, sei dahingestellt.
Schiwkows Website: Das virtuelle Nachleben eines Diktators oder «Internetbenutzer aller Länder, vereinigt euch!»
Schiwkows politischer Schwanengesang war eine Rede, die er am 1. November vor bulgarischen Journalisten in seiner Villa in Bojana bei Sofia hielt und von der einige Teile in den späten Neunzigerjahren veröffentlicht wurden. Man sieht ihn hinter einem improvisierten Rednerpult, auf dem eine Tasse steht. Er liest den Text energisch und eintönig vor, in der Tonart seiner jeweiligen Reden auf den Parteitagen der BKP: «Die Geschichte verfügte, dass der Sozialismus in einem unterentwickelten Land erbaut wird, deshalb haben wir es mit einer noch nicht entwickelten Gesellschaft zu tun. Der Sozialismus ist eine Frühgeburt – das ist die Wahrheit: eine Frühgeburt. Wir bleiben hinter den kapitalistischen Ländern zurück, nicht um Jahre, sondern um Jahrzehnte.»
Todor Schiwkow überlebte seinen Sturz und sogar das Gerichtsurteil wegen «Machtmissbrauch und Korruption». In seinen letzten Lebensjahren richteten seine Anhänger eine Website für ihn ein, wo der greise ehemalige Machthaber seine Memoiren veröffentlicht und sogar Mails beantwortet hat. Allerdings wurden die Botschaften an ihn, ganz wie zu Blütezeiten seiner Herrschaft, streng zensiert.
D ER FÜNFTE D OMINOSTEIN – DIE Č SSR
Der tschechoslowakische Parteichef Milouš Jakeš wusste, als er, vom Jubiläum der DDR zurückkommend, auf dem Flughafen Prag landete, dass die Lage in seinem Lande von Tag zu Tag komplizierter wurde. Betrachtete man nur die ungenehmigten Demonstrationen, so stieg die Zahl der Teilnehmer trotz massiven Polizeiaufgebots ständig an: 1988 waren es noch einige Hundert, 1989 jedoch schon bis zu 5000 Demonstranten, die man immer schwerer mit der bewährten Technik, mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern, unter Kontrolle bringen konnte. Verhaftungen erwiesen sich als kontraproduktiv, im Fall des Staatsfeindes Nummer 1, Václav Havel, sogar als Eigentor: Mit jedem Tag, den er im Gefängnis verbrachte, wurde sein Image im Westen besser, und über Auslandssender wie Freies Europa oder BBC wurde er auch zu Hause bekannter und populärer. Schließlich war es besser, ihn aus der Haft zu entlassen. Äußerst beunruhigend waren die Anlässe für die einzelnen Kundgebungen. Allesamt waren sie «Jubiläen», runde Jahrestage von Ereignissen, die für die Partei höchst unangenehm waren und sich mit dem Prager Frühling oder der bürgerlichen Ersten Republik von 1918 verbanden. Zuletzt hatte man im August bei einer Demonstration zum 21. Jahrestag des Prager Frühlings Polizei, Kampfgruppen, hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter der Geheimpolizei STB einsetzen müssen, um Ruhe und Ordnung auf dem Wenzelsplatz herzustellen.
S OWJETISCHE N ICHTEINMISCHUNG
Als destabilisierend wirkte in den Herbstmonaten auch die Präsenz der DDR-Flüchtlinge, die von den Medien nicht mehr verschwiegen werden konnte: «Das Versammeln der DDR-Bürger in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland und vor deren Gebäude schuf eine unhaltbare
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