Lee, Julianne
Leahs Mund gebildet, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Ciaran beschloss, dass es an der Zeit wäre, Rast zu machen. Vielleicht konnten sie in Inverness eine kleine Kammer für die Nacht mieten, wenn der Preis erschwinglich war. Sie verfügten über wenig Geld und würden daher nur in einem billigen, schäbigen Gasthaus unterkommen, aber ein festes Dach über dem Kopf wäre ein Segen, denn Frühjahrstemperaturen waren noch empfindlich kühl.
Müde ließen sie sich unter einem Baum am Straßenrand nieder und machten es sich zwischen den knorrigen Wurzeln bequem, etwas Brot und getrocknetes Fleisch zu verzehren. Leahs Ge-
sicht war grau vor Erschöpfung, aber sie hatte sich nicht ein einziges Mal beklagt. Sie starrte mit halb geschlossenen Augen zu Boden, während sie langsam kaute. Ihre Hände lagen im Schoß, nur ab und an führte sie mit der Rechten das Brot zum Mund, um ein weiteres Stück abzubeißen, ehe sie sie müde wieder sinken ließ.
Ciaran sah sie an. Wieder musste er daran denken, wie vollkommen falsch er sie bei ihrer ersten Begegnung eingeschätzt hatte. Jetzt konnte er herausfinden, wie sie wirklich war. Er hoffte nur, ihm würde genug Zeit dazu bleiben, und diese Hoffnung gab ihm Kraft. Die Zukunft lag dunkel und drohend vor ihm, aber er würde sich ihr stellen. Er wollte die Schlacht nicht umsonst überlebt haben.
Obgleich in seiner Brust und seinem rechten Arm noch immer ein heftiger Schmerz pochte, war die Schwellung mittlerweile zurückgegangen. Vorsichtig versuchte er, seinen Ellbogen anzuwinkeln, doch der Arm war steif. Er konnte ihn nur unter größter Anstrengung ein kleines Stück beugen. Dabei schoss der Schmerz wie glühendes Feuer durch seinen Körper, und nach einer Minute rang er keuchend nach Luft.
»Du musst dich ausruhen.« Leah legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist mein Schwertarm. Ich brauche ihn, um mich verteidigen zu können, also muss ich lernen, ihn wieder zu gebrauchen.«
»Und wenn dir das nicht gelingt?«
»Es wird mir gelingen. Vor zwei Wochen konnte ich ihn überhaupt noch nicht bewegen, jetzt geht es schon wieder. Ich muss nur üben, dann werde ich auch bald ein Schwert fuhren können.« Wieder beugte er den Ellbogen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, während sie ihn besorgt beobachtete.
In der Ferne ertönte Hufschlag und das Knarren von Karrenrädern. Die Geräusche kamen aus der Richtung von Inverness. Da es zu spät war, um den Talisman anzustecken, drückte Ciaran Leah in das Gras hinter dem Baum und flüsterte ihr zu, sich ganz
still zu verhalten. Vor den mit schweren Kisten beladenen Karren war ein kleines Pferd gespannt, das von zwei Rotröcken am Zügel geführt wurde. Die Soldaten trugen gelangweilte Mienen zur Schau und nahmen kaum Notiz von ihrer Umgebung. Die Räder rumpelten über den Schotter, dabei knarrten sie bedenklich unter dem Gewicht der Ladung. Ciaran und Leah warteten ab, bis der Karren hinter der nächsten Biegung verschwunden war, dann richtete sich Ciaran auf und starrte ihm hinterher.
»Ich glaube, wir sollten uns lieber wieder auf den Weg machen.« Er wollte aufstehen, doch in diesem Moment hörte er erneut Schrittgetrappel auf der Straße. Diesmal marschierte ein Trupp Soldaten vorbei. Wieder warfen sich Ciaran und Leah flach zu Boden und wagten sich nicht zu rühren, bis die Rotröcke außer Sicht waren und das Knirschen ihrer Stiefel auf dem Schotter verklang.
Ciaran seufzte. »Es ist wohl besser, wenn wir die Straße verlassen und durch die Wälder weiterwandern.«
»Aber wie sollen wir uns denn da zurechtfinden?«
Er erwiderte nichts darauf, sondern brummte nur: »Och.« Sie war eine gute Frau, aber sie musste lernen, ihm zu vertrauen. Dann erhob er sich, half ihr auf und deutete auf den Tornister, der über seiner Schulter hing. »Such in meinem sporran nach dem Talisman, aber steck ihn nicht außen an deine Kleider, sonst finde ich dich nicht, wenn du dich aus irgendeinem Grund nicht bewegst. Steck ihn in dein Mieder, dann hast du ihn notfalls schnell zur Hand.«
Sie tat, wie ihr geheißen, dann nahm sie seine Hand und folgte ihm in westlicher Richtung quer über ein Feld auf den schützenden Wald zu.
Die Nacht verbrachten sie in einem Dickicht, das zu zwei Seiten von Granitfelsen geschützt wurde, abseits des ausgetretenen schmalen Pfades. Sie verzehrten einen Teil ihrer Vorräte und legten sich dann zum Schlafen in einem Laubhaufen nieder. Leah kuschelte sich an
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