Lee, Sharon & Miller, Steve - Liaden 1 - Eine Frage der Ehre V2
stechender Schmerz sie durchzuckte, und sie ließ den Anfall von Eifersucht von sich abprallen. Mühsam rang sie darum, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden, tastete sich auf dem Pfad voran, der zur Gelassenheit führte – doch der Weg war versperrt. Sie spürte, wie zarte Finger ihr Handgelenk umklammerten, und Lina rief: »Nein, nicht doch!«
Sie erstarrte, physisch wie psychisch. »Ist schon gut.«
»Das freut mich.« Lina lächelte. »Shan und ich sind alte Freunde, Priscilla. An wen sollte er sich sonst wenden, wenn er sich verletzt fühlt und Zuspruch braucht? Und du, Denubia, darfst dich nicht so jählings abschotten, ohne Vorwarnung. Das ist unhöflich, gelinde gesagt. Es tut weh! Haben die Leute, die dich unterwiesen, dir denn nicht beigebracht, dass man einen anderen Heilkundigen nicht so brüskieren darf?«
Sie holte tief Luft und stellte die erste von zwei Fragen, die ihr zu ihrer maßlosen Verblüffung in den Sinn kamen. »Soll das heißen, dass du die ganze Zeit über offen bist?«
Lina zwinkerte verstört. »Soll ich mich denn dauernd hinter der Mauer verstecken? Soll ich Angst haben, meine Gaben einzusetzen? Stellst du dich lieber blind, weil du dich fürchtest, sehenden Auges durch die Welt zu gehen? Ich bin eine Heilerin! Mir bleibt gar nichts andere übrig, als offen zu sein.«
Auf Priscilla prasselte ein Schauer aus Emotionen nieder: Verwirrung, Zuneigung, Ungeduld, Freude. Sie kämpfte darum, das Gleichgewicht zu bewahren, und ihrer Freundin entrang sich ein Seufzer.
»Du brauchst dich nicht in dieses Chaos zu stürzen. Versuche, dich nur zu einem Teil zu verschließen! Du musst nicht unbedingt jede Nuance scannen.«
Sie begriff die Technik und probierte damit herum wie eine Novizin. Das gefühlsmäßige Bombardement verblasste und rückte in den Hintergrund. Sie holte tief Atem, ehe sie die zweite Frage stellte, die ihr auf der Seele brannte. »Shan ist ein … Heiler? Er, ein Mann, versteht sich aufs Heilen?«
Lina grinste von einem Ohr zum anderen. »Ja, Shan ist schon ein richtiger Mann«, meinte sie mit komplizenhaftem Augenzwinkern, und abermals spürte Priscilla den Stachel der Eifersucht. »Außerdem ist er ein ausgebildeter und überaus geschickter Heiler. Liebe ich dich etwa weniger, Denubia, weil ich außer dir noch andere Personen liebe?«
»Nein …« Sie kam immer noch nicht über die Eröffnung hinweg, dass ein Mann ein Heiler sein konnte. Sie fand es absurd. »In meiner Heimat, auf Sintia, sind Männer keine Seelenweber, selbst die nicht, die als Initiaten in den Inneren Zirkel aufgenommen werden. Es heißt, kein Mann besäße die Gabe.«
»Mag sein, dass dies für Sintia sogar zutrifft«, kommentierte Lina trocken. »Aber Shan ist ein Liaden, und die Lehren, die auf Sintia Verbreitung finden, haben uns noch nicht erreicht. Diejenigen von uns, die die innere Kraft besitzen, werden darin geschult, ihre Aufmerksamkeit zu schärfen und die Informationen zu nutzen, die jeder einzelne unserer Sinne uns verschafft. Shan gehört nicht zu den Leuten, die lediglich lernen, die innere Mauer zu errichten und ihre geistige Gesundheit zu erhalten, indem sie keinen Blick dahinter riskieren. Das Gleiche gilt für mich.
Und es tut weh, Denubia, wenn man mit jemandem eine geistige Verbindung hergestellt hat, um dann grundlos und ohne Warnung ausgeschlossen zu werden. Das darfst du Shan nie wieder zumuten. In einem Notfall wäre es noch zu vertreten, wenn du jemanden abweist, um dich selbst zu schützen. Aber wenn du merkst, dass du dich vor einem anderen Heiler abschirmen musst, gehört es sich, ihn zuvor daraufhinzuweisen. Die korrekte Formulierung lautet: ›Ich bitte um Verzeihung, aber ich brauche jetzt meine Privatsphäre.‹ Erst danach darfst du dich hinter deine Mauer zurückziehen.«
Priscilla ließ den Kopf hängen. »Es war nicht meine Absicht, ihn zu verletzen. Im Gegenteil, ich wollte ihm Schmerzen ersparen. Ich dachte, ich würde unaufrichtige Emotionen aussenden … weil ich erschöpft war.«
Ein Strom aus wärmender Liebe floss über sie hinweg, beruhigte sie und spendete ihr Trost. Priscilla spürte, wie ihre verkrampften Muskeln sich lockerten, und als sie den Blick hob, sah sie, dass Lina lächelte.
»Er weiß, dass du ihn nicht mit Absicht verprellt hast. Und du machst den Fehler am besten wieder gut, indem du ihn nie mehr wiederholst.« Sie streckte ihre Hand aus. »Komm, jetzt müssen wir unser Essen hinunterschlingen, wenn wir uns nicht verspäten
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