Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
und zieht ihre Hand aus meiner. Sie meidet meinen Blick und wendet sich zur Tür. »Tut mir leid, du solltest dich eigentlich ausruhen. Ich sehe später noch mal nach dir. Versuch noch ein bisschen zu schlafen.«
In diesem Moment wird mir klar, dass Tess diejenige gewesen sein muss, die die Uniformen zum Badezimmer gebracht hat. Wahrscheinlich hat sie gesehen, wie June und ich uns geküsst haben. Ich versuche, trotz all des Nebels in meinem Gehirn einen klaren Gedanken zu fassen und noch etwas zu ihr zu sagen, bevor sie geht, doch sie ist bereits aus der Tür und im Flur verschwunden.
JUNE
05:45 UHR
VENEZIA-KASERNE
TAG EINS ALS OFFIZIELLES MITGLIED DER PATRIOTEN
Ich wollte bei der Operation nicht dabei sein; Tess ist natürlich geblieben, um der Ärztin zu assistieren.
Day bewusstlos auf dem Tisch liegen zu sehen, bleich, das ausdruckslose Gesicht starr zur Decke gewandt, würde mich einfach zu sehr an die Nacht erinnern, als ich in der Gasse hinter dem Krankenhaus neben Metias’ Leiche gekniet habe. Und diese Schwäche möchte ich vor den Patrioten lieber nicht zeigen. Darum bleibe ich allein auf einem der Sofas im Wohnzimmer sitzen.
Ein weiterer Grund, aus dem ich mich vor den anderen zurückziehe, ist, dass ich über Razors Plan nachdenken will:
Ich soll von Republiksoldaten verhaftet werden.
Ich soll einen Weg finden, ein persönliches Gespräch mit dem Elektor zu führen und sein Vertrauen zu gewinnen.
Ich soll ihn vor einem erfundenen Mordanschlag warnen und damit erreichen, dass mir die Strafe für all die Verbrechen, die ich gegenüber der Republik begangen habe, erlassen wird.
Dann soll ich ihn in Position für den echten Mordanschlag locken.
Das ist meine Rolle. Darüber nachzudenken ist eine Sache; das Ganze tatsächlich durchzuziehen eine andere. Ich blicke auf meine Hände und überlege, ob ich bereit für das Blut bin, das bald daran kleben wird, ob ich bereit bin, jemanden zu ermorden. Was hat Metias immer zu mir gesagt? »Nur wenige Menschen töten aus einem guten Grund, June.« Dann aber fallen mir Days Worte im Badezimmer wieder ein. »Den einen Menschen loszuwerden, der die Verantwortung für dieses ganze verfluchte System trägt, scheint mir ein ziemlich kleiner Preis dafür zu sein, eine Revolution zu starten. Meinst du nicht?«
Die Republik hat mir Metias genommen. Ich denke an den Großen Test, die Lügen über den Tod meiner Eltern. Die künstlich erzeugten Seuchen. Von dieser Luxuskaserne aus kann ich ganz in der Ferne, hinter den Wolkenkratzern, das hell erleuchtete Stadion von Vegas sehen. Nur wenige Menschen töten aus einem guten Grund, aber wenn es einen guten Grund gibt, dann ist es doch sicher der unsrige. Oder?
Meine Hände zittern leicht. Ich versuche, sie ruhig zu halten.
In der Wohnung ist es still. Razor ist fort (er hat das Apartment um 03:32 Uhr voll uniformiert verlassen) und Kaede döst am anderen Ende meines Sofas. Wenn ich in diesem Moment eine Stecknadel auf den Marmorboden fallen ließe, würde mir das Geräusch wahrscheinlich in den Ohren wehtun. Nach einer Weile richte ich meine Aufmerksamkeit auf den kleinen Bildschirm an der Wand. Der Ton ist ausgeschaltet, aber ich sehe mir trotzdem die vertraute Abfolge von Nachrichten an. Flutwarnungen, Sturmwarnungen. Ankunfts- und Abflugzeiten von Luftschiffen. Siegesmeldungen von der Front. Manchmal frage ich mich, ob die Republik diese Siege auch bloß erfindet und ob wir den Krieg eigentlich gewinnen oder verlieren. Die Schlagzeilen huschen dahin. Es gibt sogar eine offizielle Ankündigung, dass jeder Bürger, der eine rote Strähne im Haar trägt, umgehend verhaftet wird.
Dann endet die Nachrichtensendung abrupt. Ich setze mich auf, als ich sehe, was als Nächstes übertragen wird: Der neue Elektor wird sich mit seiner ersten Rede an die Nation wenden.
Ich zögere und werfe einen Blick zu Kaede hinüber. Sie scheint ziemlich tief zu schlafen. Ich stehe auf, gehe auf leisen Sohlen durchs Zimmer und streiche dann mit dem Finger über den Bildschirm, um den Ton lauter zu stellen.
Er ist immer noch ziemlich leise, aber es reicht aus, damit ich etwas verstehen kann. Ich sehe zu, wie Anden (oder besser gesagt der ehrwürdige Elektor) elegant das Podium betritt und der üblichen Horde staatlich genehmigter Reporter vor ihm zunickt. Er sieht genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, wie eine jüngere Version seines Vaters, mit einer schmalen Brille und einem aristokratischen Kinn, gekleidet in eine makellos
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