Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
sollte ich es mal selbst versuchen.
Ich stecke die Klinge in den winzigen Spalt am Rand des Tastenfelds und biege sie vorsichtig zur Seite. Als nichts passiert, drücke ich etwas fester, bis sich die Klinge biegt. Nichts. »Es sitzt zu fest«, murmele ich. Wenn doch nur June hier wäre. Sie könnte sich wahrscheinlich innerhalb einer halben Sekunde zusammenreimen, wie dieses Ding funktioniert.
Der Junge und ich schweigen einen Moment. Das Kinn sinkt ihm auf die Brust und seine Augen fallen zu; er weiß, dass es keine Möglichkeit gibt, sein Gefängnis zu öffnen.
Ich muss ihn retten. Ich muss Eden retten . Am liebsten würde ich schreien.
Es ist keine Einbildung – ich höre tatsächlich Soldaten, die sich dem Waggon nähern. Wahrscheinlich überprüfen sie die Ladung.
»Sprich mit mir, Sam. Bist du noch krank? Was machen sie mit dir?«
Der Junge wischt sich die Nase. Alle Hoffnung ist aus seinem Gesicht gewichen. »Wer sind Sie?«
»Jemand, der dir helfen will«, flüstere ich zurück. »Je mehr du mir erzählst, desto leichter kann ich das alles hier vielleicht in Ordnung bringen.«
»Ich bin nicht mehr krank«, erwidert Sam gehetzt, so als wüsste er, dass uns nicht viel Zeit bleibt, »aber sie sagen, dass ich irgendwas in meinem Blut habe. Sie nennen es ein schlafendes Virus.« Er hält kurz inne, um nachzudenken. »Sie geben mir Medikamente, damit ich nicht wieder krank werde.« Er reibt sich die blinden Augen, wie ein wortloses Flehen, ihn zu retten. »Jedes Mal wenn der Zug anhält, nehmen sie mir Blut ab.«
»Hast du eine Ahnung, in welchen Städten du schon warst?«
»Weiß nicht … einmal hab ich den Namen Bismarck gehört …« Der Junge verstummt und denkt nach. »Und … Yankton?«
Das sind beides Städte an der Front in Dakota. Ich denke an das Transportmittel, mit dem sie ihn befördern. Vermutlich bietet es ihnen die Möglichkeit, seine Umgebung steril zu halten, sodass hin und wieder jemand zu Sam hineingehen und ihm Blut abnehmen kann, das sie anschließend mit irgendetwas mischen, um das schlafende Virus zu aktivieren. Die Schläuche in seinen Armen sind vielleicht nur für die Ernährung.
Am wahrscheinlichsten ist es, dass sie ihn als eine Art Biowaffe gegen die Kolonien einsetzen. Sie haben eine Laborratte aus ihm gemacht . Und aus Eden auch. Die Vorstellung, wie mein Bruder auf diese Weise durch das Land gekarrt wird, droht mich zu ersticken. »Wo bringen sie dich als Nächstes hin?«, will ich wissen.
»Ich weiß nicht! Ich will … ich will nur nach Hause!«
Irgendwo an die Front. Ich darf mir gar nicht ausmalen, wie viele andere Menschen dort wohl noch auf und ab gefahren werden. Ich stelle mir Eden vor, wie er zusammengerollt in einem dieser Waggons liegt.
Der Junge hat wieder angefangen zu weinen, aber ich zwinge mich, ihn noch mal anzusprechen. »Hör zu – kennst du einen Jungen, der Eden heißt? Hast du den Namen vielleicht mal irgendwo gehört?«
Er weint nur noch lauter. »Nein … ich weiß … nicht, wer …«
Ich kann nicht länger bleiben. Irgendwie gelingt es mir, meine Augen von dem Jungen loszureißen, und ich renne zu den Schiebetüren des Waggons. Die Schritte der Soldaten werden lauter – sie können nicht mehr als fünf oder sechs Eisenbahnwagen von mir entfernt sein. Ich werfe einen letzten Blick auf den Jungen. »Es tut mir leid. Ich muss gehen.« Die Worte zerreißen mir das Herz.
Der Junge schluchzt. Seine Fäuste trommeln gegen die dicke Scheibe des Glaszylinders. »Nein!« Seine Stimme bricht. »Ich hab Ihnen doch alles gesagt, was ich weiß. Bitte lassen Sie mich nicht hier!«
Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich zwinge mich, auf den Seitenriegel eines der Türflügel zu klettern, und komme auf diese Weise der Decke so nah, dass ich den Rand der runden Luke greifen kann. Von dort schwinge ich mich in die Nachtluft hinaus, zurück in den Schneeregen, der mir in den Augen brennt und winzige Eisstückchen in mein Gesicht peitscht. Keuchend ringe ich um Fassung. Ich schäme mich so sehr. Dieser Junge hat mir alles gegeben, was er konnte, und zum Dank mache ich mich aus dem Staub, um mein eigenes Leben zu retten?
Etwa hundertfünfzig Meter von mir entfernt inspizieren ein paar Soldaten einen Waggon. Ich schließe die Luke hinter mir und robbe flach auf dem Bauch liegend über das Dach, bis ich die Kante erreiche. Dann schwinge ich mich hinunter und lande auf dem Boden.
Plötzlich löst sich Pascao aus den Schatten, seine blassgrauen Augen blitzen
Weitere Kostenlose Bücher