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Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)

Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)

Titel: Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lu
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total verwirrt und durchkämmen immer noch die Umgebung, in der sie mich gesichtet haben. Ich warte, bis ich ganz sicher bin, dass niemand mehr in der Nähe ist. Dann schlüpfe ich aus meinem Versteck und laufe auf der anderen Seite der Gleise weiter. Wieder reiße ich mir die Kappe vom Kopf. Jetzt muss ich nur noch den richtigen Moment für meinen großen Auftritt abwarten.
    An jedem Waggon, an dem ich vorbeikomme, befinden sich kleine Markierungen. Kohle. Gewehre. Munition. Lebensmittel. Kurz bin ich versucht, an jenem letzten eine Pause einzulegen, aber das ist nur eine alte Gewohnheit aus meiner Zeit in Lake. Ich rufe mir in Erinnerung, dass ich nicht mehr auf der Straße lebe und die Patrioten in ihrem Hauptquartier eine gut gefüllte Speisekammer haben. Zwinge mich weiterzulaufen. Noch mehr Markierungen. Noch mehr Ausrüstung für die Front.
    Dann aber sehe ich etwas, das mich zum Anhalten zwingt. Ein Schauder läuft mir über Arme und Beine. Schnell mache ich kehrt und laufe zurück zu dem Waggon, nur für den Fall, dass ich es mir eingebildet habe.
    Nein. Da ist es, klar und deutlich ins Metall geprägt. Dieses Symbol würde ich überall erkennen.
    Das durchgestrichene X.
    Meine Gedanken überschlagen sich. Ich sehe das rote, aufgesprühte Zeichen an der Haustür meiner Familie vor mir, die Seuchenpolizei, die in Lake von Haus zu Haus zieht und Eden mitnimmt. Dieses Symbol hier kann nur eins bedeuten: dass mein Bruder oder irgendetwas, das mit ihm zu tun hat, sich in diesem Zug befindet. Der Plan der Patrioten ist vergessen. Eden könnte da drin sein.
    Ich sehe, dass die Schiebetüren des Waggons verriegelt sind, also nehme ich Anlauf und renne los. Als ich nah genug bin, springe ich, mache drei schnelle Schritte an der Seitenwand hinauf, packe die Oberkante des Waggons und ziehe mich nach oben.
    Sofort sehe ich eine runde Metallluke in der Dachmitte. Ich krieche darauf zu und fahre mit den Fingern über den Rand, bis ich schließlich vier Hebel ertaste, die die Öffnung verschlossen halten. Hastig löse ich sie. Die Soldaten könnten jeden Moment zurückkommen. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Luke. Sie öffnet sich einen Spalt, gerade so weit, dass ich hindurchschlüpfen kann.
    Mit einem gedämpften Laut lande ich auf den Füßen. Zuerst ist es so dunkel, dass ich nichts erkennen kann. Ich strecke die Hände aus und meine Finger stoßen auf etwas, das sich wie eine gewölbte Glaswand anfühlt. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit.
    Ich stehe vor einem Glaszylinder, beinahe genauso hoch und so breit wie der Waggon, der oben und unten nahtlos in eine stabile Metallfassung übergeht. Er verströmt ein schwaches blaues Glühen. Drinnen liegt eine kleine Gestalt auf dem Boden. Aus ihrem Arm ragen Schläuche. Ich weiß gleich, dass es ein Junge ist. Sein Haar ist kurz und sauber, ein weiches Lockengewirr, und er trägt einen weißen Overall, durch den er in der Dunkelheit gut sichtbar ist.
    Ein lautes Summen in meinen Ohren übertönt alles andere. Es ist Eden. Es ist Eden . Er muss es sein. Ich habe den Jackpot gewonnen – kann mein Glück gar nicht fassen. Er ist hier, ich habe ihn gefunden, mitten im Nirgendwo, in der riesigen Republik, durch einen irrwitzigen Zufall. Ich kann ihn hier rausholen. Wir können früher, als ich es für möglich gehalten hätte, in die Kolonien fliehen. Wir können noch heute Nacht fliehen.
    Ich stürze auf den Zylinder zu und trommele mit den Fäusten an die Scheibe, in der wahnsinnigen Hoffnung, dass sie zerbrechen möge, obwohl ich sehen kann, dass sie mindestens dreißig Zentimeter dick ist und wahrscheinlich kugelsicher. Einen Moment lang bin ich nicht mal sicher, ob er mich hören kann. Dann aber schlägt er die Augen auf. Sein Blick huscht verwirrt, desorientiert umher, bevor er sich in meine Richtung wendet.
    Es dauert einen Moment, bis die Erkenntnis zu mir durchdringt, dass dieser Junge nicht Eden ist.
    Der bittere Geschmack von Enttäuschung brennt mir auf der Zunge. Er ist so klein und meinem Bruder so ähnlich, dass mich bei der Erinnerung an Edens Gesicht der Schmerz überwältigt.
    Also gibt es noch andere, die mit dieser speziellen Art von Seuche infiziert wurden? Natürlich. Warum sollte Eden der Einzige in der ganzen Republik sein?
    Der Junge und ich sehen uns eine Weile an. Zumindest glaube ich, dass er mich wenigstens ein bisschen sieht, auch wenn er seinen Blick nicht auf mich fixieren kann; immer wieder kneift er die Augen zusammen,

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