Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
auf eine Art, die mich an Tess’ Kurzsichtigkeit erinnert. Eden. Ich denke daran, wie die Seuche seine Netzhäute zum Bluten gebracht hat … So wie dieser Junge sich anstrengen muss, um mich zu erkennen, scheint er so gut wie blind zu sein. Und das gilt vermutlich auch für meinen Bruder.
Plötzlich schreckt er aus seiner Lethargie hoch und krabbelt so schnell wie möglich auf mich zu. Er presst beide Hände an die Scheibe. Seine Augen sind von einem blassen, trüben Braun, nicht so grausig schwarz wie Edens Augen, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, doch die unteren Hälften beider Iris sind dunkelrot vor Blut. Bedeutet das, dass dieser Junge – dieser Eden – auf dem Weg der Besserung ist, weil das Blut zurückgeht , oder hat er das Schlimmste noch vor sich und das Blut strömt gerade erst hinein ? Edens Netzhäute waren bei meinem letzten Besuch zu Hause komplett voller Blut.
»Wer ist da?«, fragt er. Die Glasscheibe dämpft seine Stimme. Selbst auf diese kurze Entfernung kann er mich noch immer nicht klar erkennen.
Jetzt wache auch ich aus meiner Starre auf. »Ein Freund«, antworte ich heiser. »Ich werde dich hier rausholen.« Der Junge reißt die Augen auf, sofort breitet sich ein hoffnungsvoller Ausdruck auf seinem kleinen Gesicht aus. Ich lasse meine Hände über das Glas gleiten, auf der Suche nach etwas, irgendetwas , mit dem sich dieser verfluchte Zylinder öffnen lässt. »Wie funktioniert dieses Ding hier? Ist es gefährlich?«
Der Junge hämmert nun wie von Sinnen gegen die Scheibe. Er ist völlig in Panik. »Hilfe, bitte!«, schreit er mit zittriger Stimme. »Holen Sie mich hier raus! Bitte, holen Sie mich hier raus!«
Seine Worte brechen mir das Herz. Liegt Eden in diesem Moment auch blind und völlig verängstigt in irgendeinem dunklen Eisenbahnwaggon und wartet darauf, dass ich ihn rette?
Ich muss diesen Jungen da rausholen . Ich stemme mich mit meinem ganzen Gewicht gegen den Zylinder. »Du musst ganz ruhig bleiben, Kleiner. Okay? Hab keine Angst. Wie heißt du? In welcher Stadt lebt deine Familie?«
Tränen strömen dem Jungen über die Wangen. »Ich heiße Sam Vatanchi. Meine Familie wohnt in Helena, Montana.« Er schüttelt heftig den Kopf. »Sie wissen nicht, wo ich bin. Können Sie ihnen sagen, dass ich nach Hause will? Können Sie –«
Nein, das kann ich nicht. Ich bin nämlich so verflucht machtlos . Am liebsten würde ich mit der bloßen Faust ein Loch in die Metallwand des Bahnwaggons schlagen. »Ich werde tun, was ich kann. Wie kriegt man diesen Zylinder auf?«, frage ich wieder. »Ist es gefährlich, ihn zu öffnen?«
Der Junge deutet panisch auf die andere Seite des Glasbehälters. Ich sehe ihm an, wie viel Mühe es ihn kostet, seine Panik zu unterdrücken. »Okay, okay.« Er hält einen Moment inne, um nachzudenken. »Äh, es ist nicht gefährlich. Glaube ich. Da drüben ist so ein Ding, wo sie immer irgendwas eintippen. Ich höre immer das Piepsen und dann geht die Zelle auf.«
Ich renne zu der Stelle, auf die er zeigt. Ist es Einbildung oder höre ich tatsächlich das Geräusch von Stiefeln auf Asphalt? »Hier ist so eine Art gläserner Bildschirm«, sage ich. Darauf leuchtet in roten Buchstaben das Wort Verschlossen . Ich drehe mich wieder zu dem Jungen um und klopfe an die Scheibe. Seine Augen zucken vage in Richtung des Geräuschs. »Gibt es ein Passwort? Wie geben sie es ein?«
»Ich weiß nicht!« Der Junge reißt die Arme hoch; seine Worte gehen in einem Schluchzer unter. »Bitte, holen Sie –«
Verdammt, er erinnert mich so sehr an Eden. Beim Anblick seiner Tränen fangen auch meine Augen an zu brennen. »Na komm«, beschwichtige ich ihn und gebe mir alle Mühe, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Ich darf nicht die Fassung verlieren. »Denk nach. Gibt es vielleicht noch irgendeinen anderen Weg, dieses Ding aufzubekommen, abgesehen von diesem Tastenfeld?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht!«
Ich kann mir genau vorstellen, was Eden anstelle dieses kleinen Jungen sagen würde. Er würde mir irgendwelche komplizierten Anweisungen geben, ganz der kleine Techniker, der er schon immer war. So was wie: Hast du irgendwas Scharfes? Versuch, einen Hebel zu finden!
Reiß dich zusammen! Ich ziehe das Messer, das ich immer bei mir trage, aus meinem Gürtel. Wie oft habe ich Eden dabei zugesehen, wie er Geräte auseinandergeschraubt und all die Drähte und Platinen in ihrem Inneren neu miteinander verbunden hat. Vielleicht
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