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Legend - Fallender Himmel

Titel: Legend - Fallender Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lu
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Als ich Tess vor drei Jahren begegnet bin, war sie ein abgemagertes zehnjähriges Waisenkind, das im Nima-Sektor die Mülltonnen durchwühlte. In der ersten Zeit war sie so auf meine Hilfe angewiesen, dass ich manchmal vergesse, wie sehr ich mich inzwischen auf ihre Unterstützung verlasse. »Danke, Cousine.« Sie murmelt etwas, das ich nicht verstehe, und sieht weg.
    Nach einer Weile schlafe ich wieder ein. Als ich aufwache, weiß ich nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Die Kopfschmerzen sind weg und draußen ist es dunkel. Vielleicht ist es noch derselbe Tag, obwohl ich das Gefühl habe, dafür viel zu lange geschlafen zu haben. Keine Soldaten, keine Polizei. Wir sind immer noch am Leben. Ein paar Minuten bleibe ich reglos liegen, hellwach in der Dunkelheit. Wie es aussieht, hat unser Retter uns nicht gemeldet. Noch nicht.
    Tess ist auf der Bettkante eingedöst, ihr Kopf liegt auf ihren Armen. Manchmal wünschte ich, ich könnte ein gutes Zuhause für sie finden, eine nette Familie, die bereit wäre, sie aufzunehmen. Aber jedes Mal, wenn mir dieser Gedanke kommt, schiebe ich ihn sofort wieder von mir - denn wenn Tess in einer richtigen Familie leben würde, wäre sie ganz schnell zurück im Raster der Republik. Man würde sie zwingen, den Großen Test abzulegen, weil sie ihn noch nicht gemacht hat. Oder, schlimmer noch, sie würden etwas über ihre Verbindung zu mir herausfinden und sie verhören. Ich schüttele den Kopf. Zu naiv, zu leicht beeinflussbar. Ich hätte meine Bedenken, sie jemand anderem anzuvertrauen. Außerdem ... würde sie mir fehlen. Die ersten zwei Jahre, die ich allein durch die Straßen gestreift: bin, waren furchtbar einsam.
    Vorsichtig lasse ich meinen Fußknöchel kreisen. Er ist ein bisschen steif, tut aber zumindest nicht sehr weh - keine gerissenen Muskeln, keine ernst zu nehmende Schwellung. Meine Schusswunde brennt noch immer und meine Rippen tun höllisch weh, aber diesmal bin ich genug bei Kräften, um mich ohne größere Probleme aufzusetzen. Automatisch greifen meine Hände hoch zu meinem Haar, das mir lose über die Schultern hängt. Mit einer Hand nehme ich es zusammen und schlinge es zu einem straffen Knoten. Dann beuge ich mich über Tess, nehme meine ramponierte Ballonmütze vom Stuhl und setze sie auf. Meine Armmuskeln brennen vor Anstrengung.
    Der Geruch von Chili und Brot steigt mir in die Nase. Auf der Kommode neben meinem Bett steht eine dampfende Schüssel, auf deren Rand eine Scheibe Brot liegt. Mir fallen die beiden Dosen ein, die unser Retter auf die Kommode gestellt hat.
    Mein Magen knurrt laut. Ich verschlinge alles auf einen Schlag.
    Als ich die letzten Reste des Chilis von meinen Fingern lecke, höre ich, wie irgendwo im Haus eine Tür zugeht und dann, nur Sekunden später, Schritte in Richtung unseres Zimmers eilen. Ich versteife mich. Neben mir schreckt Tess aus dem Schlaf hoch und greift nach meinem Arm.
    »Was war das?«, nuschelt sie. Ich halte mir einen Finger an die Lippen.
    Unser Retter stürzt ins Zimmer. Er trägt einen ausgefransten Mantel über seinem Pyjama. »Ihr solltet jetzt gehen«, flüstert er. Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn. »Ich habe gerade gehört, dass ein Mann auf der Suche nach euch ist.«
    Ich sehe ihn ruhig an. Tess wirft mir einen panischen Blick zu. »Woher wissen Sie das?«, frage ich.
    Der Mann fängt an, das Zimmer aufzuräumen, hebt meine leere Schüssel auf und wischt über die Kommode. »Er erzählt allen, dass er Seuchenmedikamente hat, für jemanden, der sie braucht. Er sagt, er weiß, dass du verletzt bist. Einen Namen hat er nicht genannt, aber er muss dich meinen.«
    Ich richte mich auf und schwinge meine Beine über die Bettkante. Wir haben keine Wahl. »Er meint mich«, stimme ich ihm zu. Tess schnappt sich ein paar von den sauberen Verbänden und stopft sie unter ihr T-Shirt. »Das ist eine Falle. Wir müssen sofort hier weg.«
    Der Mann nickt knapp. »Ihr könnt die Hintertür nehmen. Den Flur runter und dann links.«
    Ich nehme mir die Zeit, ihm in die Augen zu sehen. In diesem Moment wird mir klar, dass er genau weiß, wer ich bin. Auch wenn er es nie laut aussprechen würde. Genau wie ein paar andere Leute in unserem Sektor, die wussten, wer ich bin, und mir trotzdem geholfen haben, hat er nicht direkt etwas dagegen, dass ich der Republik so viel Ärger mache. »Wir sind Ihnen sehr dankbar«, sage ich zu ihm.
    Er erwidert nichts. Ich nehme Tess bei der Hand und wir gehen aus dem Zimmer, den Flur hinunter und

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