Legend - Fallender Himmel
zur Hintertür hinaus. Die Nachtluft ist feucht und schwer. Die Schmerzen, die meine Verletzungen mir bereiten, treiben mir die Tränen in die Augen.
Sechs Blocks weit hasten wir durch stille Seitenstraßen, bevor wir endlich langsamer werden. Meine Schmerzen sind kaum mehr auszuhalten. Ich hebe unwillkürlich die Hand an den Hals, um nach meinem tröstenden Anhänger zu greifen, dann fällt mir wieder ein, dass er nicht mehr da ist. In meinem Magen macht sich Übelkeit breit. Was, wenn die Republik herausfindet, was es damit auf sich hat? Werden sie ihn zerstören? Was, wenn der Anhänger sie zu meiner Familie führt?
Tess lässt sich zu Boden sacken und lehnt den Kopf an eine Hauswand. »Wir müssen die Stadt verlassen«, sagt sie. »Hier ist es zu gefährlich, Day. Das weißt du. In Arizona oder Colorado wären wir sicherer - oder, was soll’s, von mir aus auch Barstow. Ich hab nichts gegen die Außenbezirke.«
Ja, ja. Ich weiß. Ich blicke zu Boden. »Ich will auch hier weg.«
»Aber du gehst trotzdem nicht. Das sehe ich dir an.«
Eine Weile schweigen wir beide. Wenn es nach mir ginge, würde ich bei der ersten Gelegenheit ans andere Ende des Landes und dann in die Kolonien fliehen. Ich hätte kein Problem damit, mein eigenes Leben zu riskieren. Aber es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die mich zurückhalten, und das weiß Tess auch. John und Mom können nicht einfach die Stellen kündigen, die ihnen zugewiesen wurden, und mit mir kommen, ohne dass die Republik alarmiert würde. Und Eden kann nicht einfach von der Schule wegbleiben. Nicht, ohne dann wie ich als Flüchtlinge im Untergrund zu leben.
»Wir werden sehen«, sage ich schließlich.
Tess schenkt mir ein bitteres Lächeln.
»Was meinst du, wer da auf der Suche nach dir ist?«, fragt sie nach einer Weile. »Woher wissen die, dass wir im Lake-Sektor sind?«
»Keine Ahnung. Könnte irgendein Medikamentendealer sein, der von dem Krankenhauseinbruch gehört hat. Vielleicht denken sie, dass wir besonders viel Geld haben oder so. Vielleicht ist es aber auch ein Soldat. Oder sogar ein Spitzel der Regierung. Ich habe im Krankenhaus meinen Anhänger verloren - ich weiß zwar nicht, wie sie damit irgendetwas über mich rausfinden sollten, aber man kann nie wissen.«
»Und was hast du jetzt vor?«
Ich zucke mit den Schultern. Meine Schusswunde hat wieder angefangen zu pochen und ich lehne mich erschöpft an die Wand. »Na, ich habe jedenfalls nicht vor, mich mit ihm zu treffen, wer auch immer es sein mag - aber ich muss zugeben, dass mich schon interessieren würde, was er zu sagen hat. Was, wenn er wirklich Seuchenmedikamente hat?«
Tess starrt mich an. In ihrem Gesicht liegt derselbe Ausdruck wie in der Nacht, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind - Hoffnung, Neugier und Angst, alles auf einmal. »Tja ... kann wohl kaum gefährlicher sein als dein hirnrissiger Einbruch ins Krankenhaus, oder?«
JUNE
Ich weiß nicht, ob Commander Jameson Mitleid mit mir hat oder ob sie selbst um Metias, einen ihrer wertvollsten Soldaten, trauert, jedenfalls hilft sie mir dabei, die Beerdigung zu organisieren - etwas, das sie noch nie für einen ihrer Soldaten getan hat. Den Grund für diesen Entschluss behält sie jedoch für sich.
Bei wohlhabenderen Familien, wie der unseren, fallen Trauerfeiern meistens sehr aufwendig aus - Metias’ Beisetzung findet in einem Gebäude mit riesigen stuckverzierten Bogengängen und Buntglasfenstern statt. Auf den Fußböden liegen weiße Teppiche; überall stehen runde weiße Banketttische, die vor weißen Lilien förmlich überquellen. Die einzigen Farben sind die der Republikflaggen und des runden goldenen Republiksymbols über dem Altar am Kopfende des Saals, und über allem prangt das Porträt unseres ehrwürdigen Elektors.
Die Trauergäste sind in feinstes Weiß gekleidet. Ich selbst trage eine kunstvoll gearbeitete weiße Robe mit Spitze und Corsagenoberteil, einem seidenen Überrock und sorgfältig drapierten Lagen auf dem Rücken. An meinem Oberteil steckt eine winzige Brosche aus Weißgold mit dem Republikemblem. Der Friseur hat mir die Haare zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt, aus der eine einzelne gelockte Strähne lose über meine Schulter fällt. Hinter meinem Ohr ist eine weiße Rose befestigt und um den Hals trage ich eine eng anliegende, perlenbesetzte Kette. Auf meinen Augenlidern glitzert weißer Lidschatten, meine Wimpern sehen aus wie in frischen Schnee getaucht. Die verquollene Röte um meine Augen ist
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