Legend - Fallender Himmel
unter schimmerndem weißen Puder verschwunden. So wie Metias’ Leben ist auch jede Spur von Farbe an mir ausgelöscht.
Metias hat mir einmal erzählt, dass es nicht immer so Brauch gewesen ist. Erst nach den frühesten Überflutungen und Vulkanausbrüchen, erst nachdem die Republik eine Barriere entlang der Grenze errichtet hatte, um die Deserteure der Kolonien daran zu hindern, auf unser Territorium zu fliehen, fingen die Menschen an, Weiß zu tragen, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. »Nach den ersten Vulkanausbrüchen«, erklärte er, »regnete monatelang weiße Asche vom Himmel und legte sich auf die Toten und Sterbenden. Darum trägt man heute Weiß, um der Toten zu gedenken.«
Er hat mir das erzählt, weil ich ihn nach der Beerdigung unserer Eltern gefragt hatte.
Jetzt wandere ich zwischen den Gästen umher, ziellos und verloren, und antworte auf die Beileidsbekundungen mit den angemessenen, eingeübten Floskeln. »Mein Beileid für Ihren Verlust«, sagen sie. Ich erkenne ein paar von Metias’ Professoren, befreundete Soldaten und Führungskräfte. Sogar eine Handvoll meiner Kommilitonen von der Drake sind gekommen. Ich bin erstaunt, sie hier zu sehen - während meiner drei Jahre an der Uni habe ich nie wirklich Freunde gefunden, was nicht zuletzt an meinem Alter und meinem übervollen Stundenplan lag. Aber sie sind gekommen, ein paar aus dem Nachmittagstraining, andere aus meinem Kurs 421 - Geschichte der Republik. Sie drücken mir die Hand und schütteln die Köpfe. »Erst deine Eltern und jetzt auch noch dein Bruder. Ich kann mir kaum vorstellen, wie du dich fühlen musst.«
Nein, das könnt ihr nicht. Aber ich lächele freundlich und neige den Kopf, denn ich weiß, sie meinen es nur gut. »Danke, dass ihr gekommen seid«, sage ich. »Das bedeutet mir sehr viel. Ich weiß, Metias wäre stolz darauf gewesen, sein Leben für die Republik zu geben.«
Hin und wieder fange ich bewundernde Blicke von dem einen oder anderen männlichen Trauergast auf, die ich aber ignoriere. So etwas interessiert mich im Moment nicht. Meine Aufmachung ist nicht für sie bestimmt. Dieses übertrieben aufwendige Kleid trage ich nur für Metias, um ohne Worte zu zeigen, wie sehr ich ihn geliebt habe.
Nach einer Weile setze ich mich an einen Tisch im vorderen Teil des Saals mit Blick auf den mit Blumen geschmückten Altar, an dem bald eine Schlange von Menschen stehen wird, die alle Lobreden auf meinen Bruder halten wollen. Respektvoll neige ich den Kopf vor der Flagge der Republik. Dann wandert mein Blick zu dem weißen Sarg direkt daneben. Von hier aus kann ich nichts als die Umrisse des Menschen sehen, der darin liegt.
»Sie sehen fantastisch aus, June.«
Ich blicke zu Thomas auf, der sich kurz vor mir verbeugt und dann neben mir Platz nimmt. Er hat seine Militäruniform gegen einen eleganten weißen Anzug mit Weste getauscht, sein Haar wirkt frisch geschnitten. Ich sehe auf den ersten Blick, dass der Anzug nagelneu ist. Er muss ein Vermögen gekostet haben. »Danke. Sie auch.«
»Das heißt ... ich meine natürlich, Sie sehen den Umständen entsprechend gut aus, nach allem, was passiert ist.«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Ich tätschele ihm beruhigend die Hand. Er lächelt mich an. Es wirkt, als wollte er noch etwas sagen, dann aber überlegt er es sich anders und senkt den Blick.
Es dauert eine halbe Stunde, bis alle ihre Plätze eingenommen haben, und eine weitere halbe Stunde, bis die Kellner mit Tabletts voller Speisen kommen. Ich esse nichts. Commander Jameson sitzt mir an unserem Tisch gegenüber und zwischen ihr und Thomas drei meiner Kommilitonen von der Drake. Ich schenke ihnen ein mühsames Lächeln. Auf meiner linken Seite sitzt ein Mann namens Chian, der für die Organisation und Beaufsichtigung des Großen Tests in Los Angeles zuständig ist. Er hat auch meinen Test betreut. Was nicht bedeutet, dass ich verstehe, warum er hier ist - warum es ihn kümmert, dass Metias tot ist. Er war ein Bekannter unserer Eltern, also ist es wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich, dass er gekommen ist, aber muss er direkt neben mir sitzen?
Dann fällt mir ein, dass er Metias’ Mentor war, bevor mein Bruder in Commander Jamesons Team aufgenommen wurde. Metias hat ihn gehasst.
Chian zieht seine buschigen Augenbrauen zusammen und legt mir eine Hand auf die nackte Schulter. Er lässt sie einen Moment dort liegen. »Wie fühlen Sie sich, meine Liebe?«, fragt er. Als er spricht, verzerrt sich die Narbe in seinem
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