Legend - Fallender Himmel
Schnitt, wie von einer glatten, scharfen Klinge. So gerade, wie die Linie ist, muss es sehr schnell gegangen sein - ich kann mir kaum vorstellen, dass Chian stillhalten würde, während ihm jemand eine solche Wunde zufügt. Einen Moment lang, nur für den Bruchteil einer Sekunde, bin ich auf Days Seite. Als ich wieder aufblicke, bemerke ich, dass Commander Jameson mich anstarrt, als könnte sie meine Gedanken lesen. Mir wird ein wenig mulmig.
Thomas legt wieder seine Hand auf meine. »Hey«, sagt er. »Day kann sich nicht bis in alle Ewigkeit vor der Regierung versteckt halten - früher oder später werden wir diesen dreckigen Verbrecher schnappen und an ihm ein Exempel statuieren. Mit Ihnen kann er es nicht aufnehmen, erst recht nicht, wenn Sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben.«
Thomas lächelt mich freundlich an und mit einem Mal fühle ich mich schwach. Plötzlich ist mir, als wäre es Metias, der da neben mir sitzt und mir versichert, dass alles wieder in Ordnung kommt und die Republik mich nicht im Stich lassen wird. Mein Bruder hat mir einmal versprochen, für immer bei mir zu bleiben. Ich wende mich von Thomas ab und sehe zum Altar hinüber, damit er die Tränen in meinen Augen nicht sieht. Ich kann sein Lächeln nicht erwidern. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder lächeln kann.
»Bringen wir es hinter uns«, flüstere ich.
DAY
Trotz des späten Nachmittags ist es noch extrem heiß. Ich humpele in der Gegend zwischen Alta und Winter durch die Straßen, am See entlang, unter freiem Himmel, verloren in den umhereilenden Menschenmassen. Meine Wunden sind noch immer nicht ganz verheilt. Ich trage die Armeehose von unserem Retter und ein dünnes Poloshirt, das Tess in einem Müllcontainer gefunden hat. Meine Mütze habe ich tief ins Gesicht gezogen und mir zur Tarnung ein dickes Pflaster über das linke Auge geklebt. Kein ungewöhnlicher Anblick. Nicht in diesem Meer von Arbeitern mit Fabrikverletzungen. Heute bin ich allein unterwegs - Tess verkriecht sich ein paar Straßen weiter im zweiten Stock eines leer stehenden Hauses. Nicht nötig, unser beider Leben aufs Spiel zu setzen, wenn es nicht unbedingt sein muss.
Vertraute Geräusche umgeben mich: Straßenhändler preisen den Passanten ihre Waren an - gekochte Gänseeier, Krapfen und Hotdogs. Verkäufer lauern in den Türen von Lebensmittelläden und Imbissen auf Kunden. Ein jahrzehntealtes Auto rattert vorbei. Die Arbeiter der zweiten Schicht schlurfen langsam nach Hause. Ein paar Mädchen beäugen mich und werden rot, als ich ihren Blick erwidere. Boote tuckern über den See und bleiben in sicherem Abstand zu den riesigen Turbinen, die auf der einen Seite das Wasser aufpeitschen. Die Flutsirenen am Ufer sind unbeleuchtet und schweigen.
Einige Bereiche sind abgesperrt. Von dort halte ich mich fern - Soldaten haben sie zur Quarantänezone erklärt.
Die Lautsprecher auf den Dächern der Gebäude knacken und rauschen und die JumboTrons unterbrechen ihre Werbespots - oder, in manchen Fällen, die Nachrichten über einen neuen Angriff der aufrührerischen Patrioten - und ein Bild unserer Nationalflagge erscheint. Alle auf der Straße bleiben stehen und es wird still, als das Nationalgelöbnis anfängt.
Ich gelobe meine Treue zur Flagge der großen Republik von Amerika, zu unserem ehrwürdigen Elektor, unserem ruhmreichen Vaterland, dem gemeinschaftlichen Kampf gegen die Kolonien und meinen Glauben an einen baldigen Sieg!
An der Stelle, als der Elektor genannt wird, salutieren wir in Richtung der Hauptstadt. Ich murmele das Gelöbnis leise mit, doch bei den letzten beiden Punkten schweige ich, nachdem ich mich vergewissert habe, dass kein Straßenpolizist in meine Richtung sieht. Ich frage mich, wie das Gelöbnis wohl lautete, bevor der Krieg gegen die Kolonien ausgebrochen ist.
Nachdem das Gelöbnis zu Ende ist, setzt sich das Leben wieder in Gang. Ich gehe auf eine chinesische Bar zu, deren Wände mit Graffiti überzogen sind. Der Mann an der Tür schenkt mir ein breites Lächeln, das mehrere Zahnlücken enthüllt, und winkt mich geschäftig durch.
»Wir haben heute echtes Tsingtao-Bier«, murmelt er. »Restbestände von einem Geschenk für unseren ehrwürdigen Elektor Primo höchstpersönlich. Noch bis achtzehn Uhr.« Während er redet, schweift sein Blick nervös hin und her. Ich starre ihn bloß an. Tsingtao-Bier. Na klar. Mein Vater hätte sich schlapp gelacht. Die Republik hat bestimmt keine Importvereinbarung mit China geschlossen (oder,
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