Legend - Fallender Himmel
an einer Bäckerei vorbeikommen und die Brotlaibe bewundern. Ich frage mich, wie es dazu gekommen ist oder ob er schon damit geboren wurde.
Ich registriere auch andere Dinge: wie gut er sich selbst in den Straßen sehr weit außerhalb des Lake-Sektors auskennt, so als würde er sich auch blind dort zurechtfinden; wie er Gebäude mustert, als würde er sie in seinem Gedächtnis abspeichern. Tess spricht ihn nie mit seinem Namen an. Genau wie sie mich Mädchen nennen, benutzen sie niemals ein Wort, das seine Identität enthüllen könnte. Als ich vom Laufen müde und benommen werde, verordnet er uns eine Pause und macht sich auf die Suche nach Wasser für mich, während ich mich ausruhe. Er kann meine Erschöpfung spüren, ohne dass ich etwas sagen muss.
Der Nachmittag rückt näher. Wir meiden die heißeste Sonne und lungern auf dem Markt im ärmsten Teil von Lake herum. Tess linst von unserem Schattenplatz unter einem Vordach zu einem der Stände hinüber. Wir sind gute fünfzehn Meter davon entfernt. Sie ist kurzsichtig, aber irgendwie scheint sie die Obst- und Gemüsestände voneinander unterscheiden zu können, wie auch die Gesichter der Händler und die Kunden mit und ohne Geld. Das weiß ich, weil ich die winzigen Veränderungen in ihrem Gesicht registriere, ihre Zufriedenheit, wenn sie mit etwas richtiggelegen hat, oder ihre Frustration, wenn das Gegenteil der Fall ist.
»Wie machst du das?«, frage ich sie.
Tess wendet sich mir zu - ihre Augen stellen sich auf die geringere Entfernung ein. »Hm? Was denn?«
»Du bist doch kurzsichtig. Wie kannst du so viel von dem erkennen, was um dich herum los ist?«
Tess wirkt einen Moment lang überrascht, dann beeindruckt. Ich merke, wie der Junge, der neben ihr sitzt, mir einen Blick zuwirft. »Ich kann winzige Unterschiede zwischen den Farben erkennen, auch wenn sie vielleicht ein bisschen verschwommen aussehen«, erklärt Tess. »Ich kann zum Beispiel die silbernen Noten sehen, die diesem Mann dort aus der Geldbörse ragen.« Sie deutet mit den Augen auf einen der Kunden an einem Stand.
Ich nicke ihr zu. »Ganz schön clever.«
Tess errötet und sieht auf ihre Schuhe hinunter. Einen Moment lang wirkt sie so verlegen, dass ich ein Lachen nicht unterdrücken kann. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Wie kann ich so kurz nach dem Tod meines Bruders schon wieder lachen? Diese beiden haben eine seltsame Art, mich aus der Reserve zu locken.
»Du bist ziemlich aufmerksam, Mädchen«, sagt der Junge leise zu mir. Er sieht mir fest in die Augen. »Jetzt wird mir klar, wie du so lange auf der Straße überleben konntest.«
Ich zucke mit den Schultern. »Das ist der einzige Weg, um zu überleben, oder etwa nicht?«
Der Junge wendet sich ab. Ich merke, wie ich ausatme. Und dann merke ich, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe, während sein Blick den meinen gefangen hielt.
»Vielleicht solltest du uns etwas zu essen stehlen und nicht ich«, sagt er dann. »Die Händler trauen einem Mädchen immer mehr, besonders einem wie dir.«
»Was meinst du damit?«
»Du kommst immer gleich auf den Punkt.«
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Genau wie du.«
Während wir unsere Aufmerksamkeit wieder den Ständen zuwenden, denke ich über meine Situation nach. Ich kann es verantworten, noch eine Nacht bei den beiden zu bleiben, bis meine Wunde so weit verheilt ist, dass ich mich wieder auf die Suche nach Informationen über Day machen kann. Wer weiß - vielleicht können sie mir ja sogar den einen oder anderen Hinweis liefern.
Als es schließlich Abend wird und die Hitze der Sonne allmählich nachlässt, machen wir uns auf den Weg zurück zum Seeufer und suchen nach einem geeigneten Ort zum Übernachten. Hinter den glaslosen Fenstern ringsum flackern Kerzen auf und hier und da entzünden die Bewohner kleine Feuer am Rand der Gassen. Straßenpolizisten drehen ihre Runden. Meine fünfte Nacht hier draußen. Ich habe mich immer noch nicht an die bröckelnden Mauern gewöhnt, an die Wäscheleinen voller abgetragener Kleidung, die die Balkongeländer schmücken, und an die Grüppchen von jungen Bettlern, die darauf hoffen, irgendetwas Essbares von einem Passanten zu ergattern ... Zumindest aber habe ich meine Arroganz verloren. Beschämt denke ich an den Abend von Metias’ Trauerfeier zurück, an dem ich, ohne darüber nachzudenken, ein riesiges Steak unberührt auf meinem Teller habe liegen lassen. Tess läuft vor uns her, vollkommen unbeeindruckt von
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