Legend - Fallender Himmel
denn Thomas lauscht konzentriert und drückt sich eine Hand aufs Ohr. Aber das, was sie sagt, ist nur für Thomas bestimmt, und ich habe keine Ahnung, worum es geht. Die Menge unter uns drängt weiter nach vorn. Ich kann an ihrer Kleidung - zerrissene T-Shirts und Hosen, nicht zueinanderpassende, löchrige Schuhe - erkennen, dass die meisten aus den Armensektoren in der Nähe des Sees kommen. Insgeheim beschwöre ich sie, sich zurückzuziehen: Haut ab, bevor es richtig schlimm wird.
Thomas beugt sich zu mir und deutet mit dem Kinn auf einen Punkt irgendwo in der Mitte der Menge. »Sehen Sie dieses jämmerliche Pack da?« Ich weiß auch so, was er meint, aber ich folge trotzdem höflich seinem Blick. Eine Gruppe von Aufständischen hat sich scharlachrote Farbe in die Haare geschmiert, um die blutige Strähne in Days Haar bei seiner Urteilsverkündung nachzuahmen. »Einen erbärmlichen Helden haben sie sich da ausgesucht«, sagt er dann. »Day wird in weniger als einer Woche tot sein.«
Ich nicke nur und erwidere nichts.
Ein paar vereinzelte Schreie dringen aus der Menge zu uns herauf. Ein Trupp Soldaten ist auf die andere Seite des Menschenpulks vorgedrungen und jetzt kesseln sie die Demonstranten ein. Sie drängen die Leute in die Mitte des Platzes. Ich runzele die Stirn. Das ist nicht die übliche Vorgehensweise, um einen rebellierenden Mob aufzulösen. In der Schule hat man uns beigebracht, dass Staubbomben oder Tränengas völlig ausreichend sind. Doch im Moment deutet nichts auf solche Maßnahmen hin - keiner der Soldaten trägt eine Atemschutzmaske. Und nun beginnt ein weiterer Trupp, auch noch die Nachzügler auf den Platz zu treiben, die sich am Rand versammelt hatten, wo die Straßen zu eng und zu wirr sind, um dort ernsthaft: zu demonstrieren.
»Was hat Commander Jameson gesagt?«, wende ich mich an Thomas.
Sein dunkles Haar fällt ihm in die Augen und verbirgt den Ausdruck darin. »Sie hat gesagt, wir sollen in Bereitschaft bleiben und weitere Befehle abwarten.«
Eine gute halbe Stunde passiert gar nichts. Ich habe eine Hand in meiner Tasche und streiche geistesabwesend über Days Amulett. Irgendwie erinnert mich die Menschenmenge da unten an den Skiz-Kampf. Wahrscheinlich sind sogar ein paar der gleichen Leute dabei.
Im nächsten Moment sehe ich Soldaten über die Dächer der Gebäude laufen, die den Platz umgeben. Einige balancieren über Fenstersimse, andere gehen in einer Reihe am Rand der Dächer in Stellung. Seltsam. Gewöhnliche Soldatenuniformen haben normalerweise schwarze Kordeln und eine einfache Reihe von Silberknöpfen auf der Jacke. Die Abzeichen auf den Schultern müssten marineblau, rot, silbern oder golden sein. Doch diese Soldaten haben keine Knöpfe an ihren Jacken. Stattdessen verläuft diagonal über ihre Brust ein weißer Streifen und ihre Armbinden sind grau. Ich brauche eine weitere Sekunde, um zu begreifen.
»Thomas.« Ich tippe ihm auf die Schulter und deute auf die Dächer. »Das sind Scharfschützen.«
Keine Überraschung in seinem Gesicht, keinerlei Regung in seinen Augen. Er räuspert sich. »Stimmt.«
»Was soll das?« Meine Stimme wird lauter. Ich sehe zu den Demonstranten auf dem Platz hinunter, dann wieder hinauf auf die Dächer. Keiner der Soldaten scheint Staubbomben oder Tränengas bei sich zu haben. Stattdessen trägt jeder einzelne ein Gewehr über der Schulter. »Die wollen den Aufstand gar nicht auflösen, Thomas. Sie treiben die Leute zusammen.«
Thomas wirft mir einen strengen Blick zu. »Ganz ruhig, June. Konzentrieren Sie sich auf die Menge.«
Ich blicke weiterhin zu den Männern hinauf und beobachte, wie Commander Jameson, von Soldaten flankiert, das Dach der Batalla-Zentrale betritt. Sie spricht in das Mikrofon vor ihrem Mund.
Mehrere Sekunden vergehen. Ein schreckliches Gefühl macht sich in meiner Brust breit. Mir wird klar, was das alles zu bedeuten hat.
Plötzlich murmelt Thomas etwas in sein Mikrofon. Die Antwort auf einen Befehl. Ich sehe ihn an. Für einen kurzen Moment fängt er meinen Blick auf, dann wendet er sich seinen Soldaten zu, die mit uns auf der Plattform stehen. »Feuer frei!«
»Thomas!« Ich will noch mehr sagen, doch im selben Moment donnern Schüsse sowohl von den Dächern als auch von unserer Plattform. Ich werfe mich nach vorn. Ich weiß nicht, was ich vorhabe - den Soldaten in den Weg springen und wild mit den Armen fuchteln? -, doch Thomas packt mich an der Schulter, bevor ich auch nur einen Schritt machen
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