Legend - Fallender Himmel
mal gefragt ... Hast du dich nicht schon mal gefragt, warum sie nie ganz verschwindet? Oder warum sie in so regelmäßigen Abständen immer wieder ausbricht?«
Ich blicke ihn an. »Was willst du damit sagen?«
Day gelingt es mit einiger Mühe, seinen Blick auf mich zu richten. »Was ich damit sagen will, ist ... Als sie mich aus meiner Zelle gezerrt haben, habe ich so eine rote Null auf einer der Türen gesehen. Genau solche Zahlen sind mir auch schon im Lake-Sektor aufgefallen. Warum sollten die wohl ausgerechnet in den Armenvierteln auftauchen? Was machen die da draußen - was pumpen sie in die Sektoren?«
Meine Augen werden schmal. »Du glaubst also, die Republik infiziert vorsätzlich Menschen? Day, du bewegst dich langsam auf ziemlich dünnem Eis.«
Aber Day schweigt nicht. Stattdessen bekommt seine Stimme einen drängenden Unterton. »Dafür wollten sie Eden haben, oder?«, flüstert er. »Um das Resultat ihres mutierten Seuchenvirus zu begutachten. Wozu sonst?«
»Um die Ausbreitung des neuen Virus zu verhindern, das er in sich trägt.«
Day lacht, doch es bringt ihn nur wieder zum Husten. »Nein. Sie benutzen ihn. Sie benutzen ihn ...« Seine Lider werden schwer. Das Sprechen hat ihn zu sehr angestrengt.
»Du fantasierst«, erwidere ich. Doch während ich vor Thomas’ Berührung neuerdings zurückschrecke, empfinde ich keinerlei Abneigung gegen Day, trotz seiner Anschuldigungen. Aber ich sollte. Doch das Gefühl stellt sich einfach nicht ein. »Eine derartige Lüge gilt als Verrat an der Republik. Außerdem, warum sollte der Kongress so etwas erlauben?«
Day wendet seinen Blick nicht von mir. Und gerade als ich denke, dass er nicht mehr genug Kraft hat, um zu antworten, tut er es doch und seine Stimme klingt noch eindringlicher als zuvor. »Betrachte es doch mal von der Seite: Wie sollten sie sonst diese Impfungen entwickeln, die sie euch jedes Jahr verabreichen? Sie wirken immer. Findest du es nicht seltsam, dass es immer sofort Impfungen gegen jede neue Seuchenform gibt, auch wenn diese sich erst vor Kurzem herausgebildet hat? Woher wissen sie denn jedes Mal so genau, welchen Impfstoff sie brauchen werden?«
Ich gehe wieder in die Hocke. Ich habe unsere jährlichen Pflichtimpfungen nie infrage gestellt, nie einen Grund gehabt, daran zu zweifeln. Warum auch? Mein Vater hat hinter einer dieser Flügeltüren gearbeitet und sein Möglichstes getan, um die Seuche zu bekämpfen. Nein. Ich kann mir das nicht länger anhören. Ich hebe meinen Umhang vom Boden auf und klemme ihn mir unter den Arm.
»Eins noch«, flüstert Day, als ich aufstehe. Ich blicke zu ihm hinunter. Sein Blick scheint sich geradezu in meine Augen hineinzubohren. »Glaubst du wirklich, sie bringen uns in Arbeitslager, wenn wir den Test nicht bestehen? June, die einzigen Lager, von denen da die Rede ist, sind die Leichenhallen in den Kellern der Krankenhäuser.«
Ich wage nicht, noch länger zu bleiben. Stattdessen gehe ich, weg von dem Podest, weg von Day. Aber mein Herz hämmert in meiner Brust. Die Soldaten, die beim Aufzug warten, stehen noch strammer, als ich auf sie zukomme. Ich ordne meine Gesichtszüge zu einer gereizten Miene. »Öffnen Sie die Fesseln«, befehle ich einem der Soldaten. »Bringen Sie ihn in den Krankenflügel und sorgen Sie dafür, dass sich ein Arzt um sein Bein kümmert. Und lassen Sie ihm Wasser und etwas zu essen bringen. Sonst übersteht er die Nacht nicht.«
Der Soldat salutiert, aber ich sehe ihn nicht einmal an, bevor sich die Aufzugtüren schließen.
DAY
Ich habe wieder Albträume. Diesmal handeln sie von Tess.
Ich renne durch die Straßen von Lake. Irgendwo vor mir läuft Tess, aber sie weiß nicht, dass ich da bin. Sie sieht nach links und rechts, sucht verzweifelt nach meinem Gesicht, aber alle um sie herum sind Fremde oder Straßenpolizisten oder Soldaten. Ich rufe nach ihr. Aber meine Beine bewegen sich so langsam, als würde ich durch zähen Schlamm waten.
»Tess!«, schreie ich. »Ich bin hier, direkt hinter dir!«
Sie kann mich nicht hören. Ich sehe hilflos zu, wie sie geradewegs einem Soldaten in die Arme läuft, und als sie wegrennen will, hält er sie fest und wirft sie zu Boden. Ich schreie irgendetwas. Der Soldat hebt seine Pistole und richtet sie auf Tess. Dann sehe ich, dass es gar nicht Tess ist, sondern meine Mutter, die in einer Blutlache liegt. Ich versuche, zu ihr zu laufen. Stattdessen aber bleibe ich wie ein Feigling auf einem Dach hinter einem Schornstein hocken. Es ist
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