Legend - Fallender Himmel
kann.
»Zurück, June!«
»Sagen Sie Ihren Männern, dass sie aufhören sollen!«, schreie ich und winde mich aus seinem Griff. »Sagen Sie ihnen -«
Im nächsten Moment stößt Thomas mich so heftig zu Boden, dass ich spüre, wie die Wunde in meiner Seite wieder aufreißt.
»Verdammt noch mal, June«, bellt er. »Bleiben Sie zurück!«
Der Boden ist überraschend kalt. Einen Augenblick bleibe ich unentschlossen liegen, unfähig, mich zu rühren. Ich begreife kaum, was gerade geschieht. Die Haut um meine Wunde brennt. Kugeln hageln auf den Platz nieder. Die Leute in der Menge gehen reihenweise zu Boden, wie Dämme, die der hereinbrechenden Flut nachgeben.
Thomas, aufhören! Bitte, aufhören! Ich will aufspringen und ihm ins Gesicht schreien, ihm irgendwie wehtun. Metias würde dich dafür umbringen, wenn er noch am Leben wäre, Thomas! Stattdessen halte ich mir die Ohren zu. Die Schüsse sind ohrenbetäubend laut.
Das Ganze dauert nur eine Minute, wenn überhaupt, aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Endlich befiehlt Thomas den Soldaten, das Feuer einzustellen. Die Menschen in der Menge, die nicht erschossen worden sind, fallen auf die Knie und reißen verzweifelt die Hände über den Kopf. Soldaten stürmen auf sie zu, fesseln ihnen die Hände auf dem Rücken und schubsen sie zu kleinen Grüppchen zusammen.
Ich stemme mich hoch auf die Knie. Meine Ohren rauschen noch immer von dem Gewehrfeuer ... Schnell verschaffe ich mir einen Überblick über die Szenerie aus Blut und Leichen und Gefangenen. 97, 98 Tote. Nein, mindestens 120. Noch Hunderte mehr sind verhaftet worden. Ich kann mich nicht genug konzentrieren, um sie zu zählen.
Thomas wirft mir einen Blick zu, bevor er die Plattform verlässt. Sein Gesicht ist ernst, beinahe schuldbewusst, doch mir zieht sich das Herz zusammen, als mir klar wird, dass er nur ein schlechtes Gewissen hat, weil er mich zu Boden gestoßen hat. Nicht wegen des Massakers, das er verursacht hat. Mit ein paar Soldaten macht er sich auf den Weg zurück in die Zentrale. Ich wende mich ab, um ihn nicht ansehen zu müssen.
DAY
Wir fahren ein paar Etagen nach oben, bis ich höre, wie die Ketten des Aufzugs knarzend innehalten. Zwei Soldaten schieben mich hinaus in einen mir wohlbekannten Flur. Sie bringen mich vermutlich wieder in meine alte Zelle, zumindest bis auf Weiteres. Zum ersten Mal, seit ich auf der Krankenliege aufgewacht bin, wird mir bewusst, wie erschöpft ich bin, und der Kopf sinkt mir auf die Brust. Der Arzt muss mir irgendetwas injiziert haben, damit ich während der Operation nicht allzu sehr um mich schlage. Alles am Rand meines Gesichtsfeldes wirkt verschwommen, so als würde ich die ganze Zeit sprinten.
Auf halbem Weg den Flur hinunter bleiben die Soldaten plötzlich stehen, meine Zelle ist noch ein gutes Stück entfernt. Überrascht blicke ich auf. Wir stehen vor einem der Räume, die mir schon früher aufgefallen sind, weil sie Glasscheiben in den Türen haben. Verhörräume. Aha. Sie wollen also noch ein paar Informationen, bevor sie mich hinrichten.
Aus dem Ohrhörer eines der Soldaten dringt statisches Rauschen, dann eine Stimme. Der Soldat nickt. »Bringen wir ihn rein«, wendet er sich an seine Kameraden. »Der Captain ist gleich da.«
Ich stehe in dem Zimmer und warte, während die Minuten vorbeiticken. Wachen mit ausdruckslosen Gesichtern haben an der Tür Aufstellung genommen, während zwei weitere meine gefesselten Arme festhalten. Ich weiß, dass dieser Raum mehr oder weniger schalldicht ist, aber ich könnte schwören, in der Ferne das Donnern von Schüssen und Schreie zu hören. Mein Herz pocht. Die Soldaten müssen in die Menge unten auf dem Platz feuern. Sterben diese Menschen etwa meinetwegen?
Noch mehr Zeit vergeht. Ich warte. Meine Lider werden schwer. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mich in einer Ecke meiner Zelle zu einer Kugel zusammenzurollen und zu schlafen.
Schließlich höre ich Schritte näher kommen. Die Tür schwingt auf und ein junger, schwarz gekleideter Mann kommt herein. Sein dunkles Haar hängt ihm in die Augen und auf seinen Schultern glänzen silberne Epauletten. Die Soldaten im Verhörraum schlagen die Hacken zusammen.
Der Mann gibt ihnen ein Zeichen. Jetzt erkenne ich ihn. Es ist der, der meine Mutter erschossen hat. June hat von ihm gesprochen. Thomas. Commander Jameson muss ihn geschickt haben.
»Mr Wing.« Er kommt auf mich zu und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was für ein Vergnügen, Sie
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