Legend - Fallender Himmel
weiß nicht, wer es getan hat. Es tut mir leid, dass ich ihn überhaupt verletzt habe, aber ich musste mein eigenes Leben retten. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit zum Nachdenken gehabt.«
June nickt. Der Ausdruck in ihrem Gesicht bricht mir fast das Herz und am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen. Irgendjemand sollte sie in den Arm nehmen. »Er fehlt mir so«, flüstert sie. »Ich dachte, wir hätten noch so viele Jahre vor uns, weißt du? Dass ich mich immer auf ihn verlassen könnte. Er war alles, was ich noch hatte. Und jetzt ist er weg und ich wünschte, ich wüsste, warum.« Langsam schüttelt sie den Kopf, resigniert, dann blickt sie mir wieder in die Augen. Ihre Traurigkeit lässt sie unbeschreiblich schön aussehen, wie Schnee, der eine schroffe Landschaft bedeckt. »Und ich weiß wirklich nicht, warum. Das ist das Schlimmste daran, Day. Ich weiß nicht, warum er sterben musste. Warum sollte irgendjemand seinen Tod gewollt haben?«
Ihre Worte sind meinen eigenen Gedanken über den Tod meiner Mutter so ähnlich, dass ich kaum atmen kann. Ich wusste nicht, dass June ihre Eltern verloren hat, obwohl ich es aus ihrem Verhalten hätte schließen können. June hat meine Mutter nicht erschossen. Sie hat die Seuche nicht in mein Zuhause gebracht. Sie ist einfach nur ein Mädchen, das seinen Bruder verloren hat und dem irgendjemand eingeredet hat, dass ich der Mörder bin. Und in all ihrem Schmerz hat sie mich aufgespürt. Hätte ich an ihrer Stelle nicht ganz genauso gehandelt?
Jetzt weint sie. Ich lächele ihr vorsichtig zu, dann setze ich mich auf und strecke meine Hand nach ihrem Gesicht aus. Die Kette an meinem Handgelenk klirrt. Ich wische ihr die Tränen von der Wange. Wir sagen beide nichts. Das müssen wir gar nicht. Sie scheint nachzudenken ... Wenn ich, was den Tod ihres Bruders betrifft, recht habe, womit mag ich dann noch richtigliegen?
June nimmt meine Hand und drückt sie an ihre Wange. Bei ihrer Berührung breitet sich Wärme in mir aus. Sie ist so schön. Alles in mir verzehrt sich danach, sie in meine Arme zu schließen, meine Lippen auf ihre zu drücken und den Kummer aus ihren Augen zu vertreiben. Ich wünschte, ich könnte nur für eine einzige Sekunde in jene Nacht in der kleinen Gasse zurückkehren.
Ich bin der Erste, der wieder etwas sagt. »Vielleicht haben wir beide ein und denselben Feind. Und der hat uns gegeneinander ausgespielt.«
June holt tief Luft. »Ich bin noch nicht ganz sicher«, erwidert sie, doch ich kann ihrer Stimme anhören, dass sie eigentlich meiner Meinung ist. »Es ist gefährlich, solche Dinge zu sagen.« Sie wendet sich ab, greift in ihren Umhang und zieht etwas daraus hervor, von dem ich dachte, dass ich es in der Nacht am Krankenhaus verloren hätte. »Hier. Ich möchte es dir zurückgeben. Ich brauche es nicht mehr.«
Ich will danach greifen, aber meine Ketten halten mich zurück. In ihrer Handfläche liegt mein Anhänger, die kleinen Erhebungen auf der Vorderseite sind zerkratzt und schmutzig, aber im Großen und Ganzen ist er unversehrt und die dazugehörige Schnur liegt als kleines Bündel daneben.
»Du hattest es«, flüstere ich. »Du hast es in der Nacht am Krankenhaus gefunden, stimmt’s? Daran hast du mich erkannt, nachdem du mich aufgespürt hattest - ich muss unbewusst danach gegriffen haben.«
June nickt schweigend, dann nimmt sie meine Hand und lässt die Kette samt Anhänger hineinfallen. Gedankenverloren starre ich darauf.
Mein Vater. Jetzt, da ich den Anhänger wieder in der Hand halte, kann ich die Erinnerung nicht mehr verdrängen. Ich denke an den Tag zurück, an dem er uns besuchte, nachdem er sechs Monate ohne eine einzige Nachricht fort gewesen war. Als er sicher im Haus war und wir die Vorhänge zugezogen hatten, schloss er Mom in die Arme und gab ihr einen nicht enden wollenden Kuss. Eine Hand hatte er schützend auf ihren Bauch gelegt. John, die Hände in den Hosentaschen, wartete geduldig ab, um ihn zu begrüßen. Ich war noch klein genug, um mich an sein Bein zu klammern. Eden war zu dieser Zeit noch nicht geboren, sondern in Moms stetig wachsendem Bauch.
»Wie geht es meinen Jungs?«, fragte mein Vater, als er Mom schließlich losließ. Er tätschelte meine Wange und lächelte John an.
John schenkte ihm ein breites Grinsen voller Zahnlücken. Er hatte sich die Haare so lang wachsen lassen, dass er sie zu einem Pferdeschwanz binden konnte. Er hielt eine Prüfungsurkunde hoch. »Guck mal!«, rief er. »Ich hab den
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