Legend - Fallender Himmel
morgen.«
Stille.
Ich warte eine weitere Minute und lenke mich ab, indem ich Ollie streichle. Nach einer Weile stehe ich auf und werfe einen Blick durch den Türspion. Der Flur ist leer.
Als ich ganz sicher bin, dass er weg ist, bleibe ich noch eine Stunde wach auf der Couch liegen. Meine Gedanken rasen von den Geschehnissen auf dem Batalla-Platz zu Days Zustand auf dem Dach, seinen ungeheuren Behauptungen über die Seuche und den Großen Test und dann wieder zurück zu Thomas. Der Thomas, der, ohne zu zögern, Commander Jamesons Befehle ausführt, ist ein anderer Thomas als der, der um meine Sicherheit im Lake-Sektor besorgt war. Früher war Thomas unsicher, doch immer höflich, vor allem zu mir. Vielleicht bin aber auch ich diejenige, die sich verändert hat. Als ich Days Familie aufgespürt hatte und Thomas Days Mutter erschoss, als heute auf dem Batalla-Platz auf die Demonstranten gefeuert wurde ... Beide Male habe ich bloß danebengestanden und nichts getan, um es zu verhindern. Macht mich das genauso schuldig wie Thomas? Tun wir das Richtige, wenn wir unsere Befehle befolgen? Die Republik wird doch wohl die richtigen Entscheidungen treffen, oder?
Und was das, was Day zu mir gesagt hat, betrifft ... Wut steigt in mir auf, wenn ich daran denke. Mein Vater hat hinter diesen Flügeltüren gearbeitet, Metias hat unter Chian gelernt, der im Komitee des Großen Tests arbeitet. Warum sollten wir unsere eigenen Leute vergiften und töten?
Ich seufze, setze mich auf und nehme eins von Metias’ Tagebüchern vom Couchtisch.
Der erste Eintrag handelt von der anstrengenden Woche Aufräumdienst, nachdem Hurrikan Elijah durch Los Angeles gefegt war. In einem anderen beschreibt er seine erste Woche in Commander Jamesons Einheit. Ein dritter ist kurz, nur einen Absatz lang, und Metias beklagt sich darin über zwei Nachtschichten in Folge. Das bringt mich zum Lächeln. Ich erinnere mich noch genau an seine Worte. »Ich kann kaum die Augen offen halten«, hat er nach der ersten Nachtschicht zu mir gesagt. »Glaubt die denn allen Ernstes, dass wir mit so einer Nacht in den Knochen noch zu irgendwas zu gebrauchen sind? Ich war heute dermaßen neben der Spur, da hätte der Präsident der Kolonien persönlich in die Zentrale marschieren können und ich hätte nichts davon mitbekommen.«
Ich spüre eine Träne auf der Wange und wische sie schnell weg. Ollie neben mir winselt. Ich strecke die Hand aus und vergrabe sie in dem dicken weißen Fell in seinem Nacken und er legt seufzend seinen Kopf in meinen Schoß.
Metias hat sich immer viel zu viele Gedanken gemacht.
Beim Weiterlesen werden meine Lider langsam schwer. Die Wörter auf der Seite beginnen miteinander zu verschmelzen, bis ich nichts mehr von dem, was in den einzelnen Einträgen steht, begreife. Schließlich lege ich das Tagebuch weg und gleite in den Schlaf hinüber.
In meinen Träumen sehe ich Day. Er hält meine Hand in seiner und mein Herz klopft schneller bei seiner Berührung. Das Haar fällt ihm über die Schultern wie ein seidiger Umhang, eine Strähne ist blutig rot, sein Blick wirkt schmerzerfüllt. »Ich habe deinen Bruder nicht getötet.« Er zieht mich an sich. »Ich schwöre es dir. Das hätte ich niemals gekonnt.«
Als ich aufwache, bleibe ich noch eine Weile reglos liegen und lasse mir Days Worte durch den Kopf gehen. Mein Blick wandert zu meinem Computer. Was ist in dieser verhängnisvollen Nacht geschehen? Wenn Day meinen Bruder an der Schulter getroffen hat, wie ist das Messer dann in seiner Brust gelandet? Allein bei dem Gedanken daran krampft sich mein Herz zusammen. Ich sehe Ollie an.
»Wer würde Metias etwas antun wollen?«, frage ich ihn. Ollie blickt mich mit traurigen Augen an. »Und warum?«
Ein paar Minuten später stehe ich vom Sofa auf und schlendere zu meinem Schreibtisch hinüber, um den Computer einzuschalten.
Wieder rufe ich den Bericht über den Vorfall im Krankenhaus auf. Vier Seiten Text, eine Seite Fotos. Es sind die Fotos, die ich mir genauer ansehen will. Commander Jameson hat mir nur ein paar Minuten gegeben, um Metias’ Leiche zu untersuchen, und die Zeit habe ich kaum genutzt - aber wie hätte ich mich in dem Moment auch konzentrieren sollen? Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass Day der Mörder ist. Ich habe mir die Leiche nicht so genau angesehen, wie ich es vielleicht hätte tun sollen.
Jetzt vergrößere ich die ersten Fotos mit einem Doppelklick, bis sie den gesamten Bildschirm ausfüllen. Bei dem Anblick wird
Weitere Kostenlose Bücher