Legende der Angst
Band zu Ende war, drückte Nguyen den Knopf der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch. Am anderen Ende der Leitung meldete sich einer seiner Männer, Officer Martin. Der Mann hatte ihm letzte Nacht geholfen, Mary festzunehmen.
»Gibt es irgend etwas Neues wegen Mary Blancs Verhaftung?« fragte Nguyen.
»Sie wird dem Richter nicht vor Montag vorgeführt werden«, entgegnete Martin.
»Kann man die Vorführung nicht noch verzögern?«
»Blancs Anwalt wird sich beschweren.«
»Das tun Anwälte immer. Bringen Sie den Richter dazu, sich kurz vor der anberaumten Vorführung krank zu melden. Bitten Sie ihn in meinem Namen, uns diesen Gefallen zu tun.
Ich will nicht, daß das Mädchen rauskommt. Sie ist gefährlich.«
»Ich verstehe. Sonst noch was?«
»Ich will eine Liste mit allen geschlossenen Lagerhäusern in Balton«, sagte Nguyen. »Können Sie mir die besorgen?«
»Sicher«, antwortete Martin. »Wozu brauchen Sie sie denn?«
»Ich will einen Betonboden aufwischen«, erklärte Nguyen, »und sehen, was sich dabei finden läßt.«
3. Kapitel
Die Begräbnisse von Todd Green und Kathy Baker fanden Dienstag morgen statt. Der Dekan der Point High hatte für diesen Tag den Unterricht abgesagt und schätzungsweise die Hälfte aller Schüler nahm an der Zeremonie teil. Todd und Kathy waren ziemlich beliebt gewesen, und als der Priester die Grabrede auf die beiden hielt, war Schluchzen zu vernehmen. Die Angehörigen der Ermordeten, die eng zusammengedrängt und schwarzgekleidet in den ersten Bänken saßen, blieben stumm. Trauer spiegelte sich auf ihren Gesichtern wider, gemischt mit Haß. Angela saß in der hintersten Bank der Kapelle und fragte sich, ob die Angehörigen wußten, daß sie mit Mary befreundet war.
Angela ging nicht zu den Gräbern, nachdem die Zeremonie beendet war. Sie hatte genug Tränen gesehen; sie fragte sich, warum sie überhaupt gekommen war. Tief in ihrem Inneren jedoch wußte sie die Antwort auf diese Frage. Sie fühlte sich schuldig. Sie machte sich immer noch Vorwürfe, nichts von Marys Geisteszustand bemerkt zu haben, bevor in jener Nacht die Schüsse gefallen waren. Sicher, Mary hatte sich nicht aufgeführt als wäre sie geistig verwirrt, nicht einmal, nachdem sie ihre tödliche Mission beendet hatte.
Seit Samstag morgen hatte Angela nicht mehr mit Mary gesprochen.
Angela ging zu ihrem Wagen, um einzusteigen. Jim Kline kam auf sie zu, und sie empfand nicht die geringste Furcht vor ihm. Sie war Marys Geschichte noch zwei- oder dreimal durchgegangen und immer zu dem gleichen Schluß gekommen: Bei Mary war irgendeine Sicherung durchgebrannt. Akte geschlossen.
»Angie«, sagte Jim. »Kann ich für eine Minute mit dir reden?«
Jim war das, was man unter einem absolut geilen Typen verstand. Gott selbst mußte seinen Körper entworfen und Jim dann kuschelig in diesen eingepaßt haben. Jim war groß, über einsachtzig, und war gebaut wie ein kräftiger Baum. Sein Haar war braun, lag immer gut und sein Gesicht war fein geschnitten. Er hatte die breiten Schultern und starken Arme eines durchtrainierten Quarterback. Sein Blick jedoch wirkte irgendwie unsicher und schüchtern, das gleiche galt für sein Lächeln. Für einen Sportler bewegte er sich ein wenig linkisch. Er sah nicht besonders intelligent aus, aber das war in Ordnung. Denn wenn jemand mit einem solchen Körper auch noch Verstand besessen hätte, wäre er wohl absolut unwiderstehlich gewesen.
Angela hatte Jim immer schon nett gefunden, und sie hatte sich mehr als gefreut, als er sie zu seiner Party eingeladen hatte. Sie versuchte, jetzt nicht an diese Dinge zu denken.
»Sicher können wir reden«, sagte Angela, die neben der offenen Tür ihres Wagens stand. Mehr als die Hälfte der Leute schritt zu den Gräbern. Ihr Wagen war auf dem Parkplatz der Kapelle von mindestens drei anderen Autos zugeparkt. Im Augenblick hatte sie also ohnehin keine Chance, von hier wegzukommen. »Wie geht es deinem Bein?« fragte sie.
»Besser«, antwortete Jim. »Der Schuß hat mich nur gestreift.« Er sah wieder auf, sein Blick schweifte zur Kapelle, dann zurück zu ihr. Er schien verlegen zu sein. »Ich wollte mich nur bei dir für das bedanken, was du am Freitag getan hast. Du hast mir das Leben gerettet.«
Angela lächelte ihn an. »Lieutenant Nguyen hat dir das Leben gerettet. Er ist derjenige, dem du danken solltest.«
»Ich wäre nicht mehr am Leben gewesen, als Nguyen eingriff, wenn du Mary im Haus und später im Wald
Weitere Kostenlose Bücher