Legende der Angst
haben. Er könnte hinter dir her sein.«
Angela löste Marys Hand von ihrem Arm. »Ich kann schon auf mich aufpassen.«
Mary lehnte sich zurück und lächelte traurig. »Das habe ich von mir auch gedacht.«
Angela wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie sagte Mary, daß sie sie bald wieder besuchen würde, und verließ den Raum. Mary blieb mit der Handschelle an den Stuhl gefesselt zurück. Wie traurig, dachte Angela. Mary steckte so voller Energien. Was für eine Verschwendung eines Lebens. Angela hoffte, daß die Richter sich dafür entschieden, sie in die Obhut von kundigen Psychiatern zu übergeben, statt sie einfach hinter starke Gitter zu stecken.
Nguyen empfing sie im Flur und brachte sie in sein Büro zurück. Er bot ihr einen Stuhl an, aber sie blieb stehen. Er fragte sie, was Mary gesagt hatte.
»Nichts«, erwiderte Angela.
»Sie waren länger als zehn Minuten bei ihr«, sagte Nguyen. »Sie beide müssen über irgend etwas gesprochen haben.«
»Über nichts Wichtiges. Sie will nicht über letzte Nacht reden.« Angela hob die Hände. »Es tut mir leid.«
Nguyen sah sie eine Weile nur an. Er schien Mitgefühl mit ihr zu empfinden, und Angela fühlte sich schuldig, weil sie ihn belog. Aber sie sah sich nicht dazu in der Lage, ihm Marys Geschichte zu erzählen. Wenn Mary sie ihm selbst erzählen wollte, war das eine Sache. Doch Angela wäre sich wie eine Verräterin an ihrer Freundin vorgekommen, wenn sie deren Geschichte ausgeplaudert hätte.
Schließlich nickte Nguyen. »Ist schon in Ordnung, Angela.« Er geleitete sie zur Tür seines Büros. »Wir haben Ihre Telefonnummer, oder? Ich würde gerne mit Ihnen in Verbindung bleiben. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich doch bitte an.«
»Versprochen«, sagte Angela. »Ist Jim Kline noch hier?«
»Er ist vor ein paar Minuten gegangen«, antwortete Nguyen.
»Wie geht es ihm?«
Nguyen lächelte. »Das haben Sie mich schon einmal gefragt, als Sie gekommen sind.«
Angela nickte. »Stimmt.« Sie schenkte ihm ein Lächeln.
»Ich dachte nur, ich frage noch mal. Auf Wiedersehen, Lieutenant. Danke, daß Sie mir das Leben gerettet haben.«
»Danke, daß Sie hergekommen sind«, sagte Nguyen.
Nachdem Angela Warner gegangen war, betrat ein uniformierter Beamter das Büro, eine Kassette und einen Recorder in den Händen, und brachte beides zu Nguyens Schreibtisch. Der Officer verließ das Büro wieder, und Nguyen spulte das Band zurück, um sich dann die Unterhaltung zwischen Angela und Mary anzuhören. Natürlich hatte er sich auch schon zuschalten lassen, als Angela und Mary noch in dem Verhörzimmer gewesen waren. Wenn ihn irgendwelche Schuldgefühle plagten, die beiden Mädchen belauscht zu haben, so verdrängte er diese. Ein grausames Verbrechen war begangen worden, und er war entschlossen, es aufzuklären. Das lag in seiner Verantwortlichkeit. Angela hatte recht mit dem, was sie über Lieutenant Nguyen dachte – er war sehr gut in seinem Job.
Als Nguyen sich die Unterhaltung ein zweites Mal anhörte, fiel ihm besonders die Entschlossenheit in Marys Stimme auf. Sie war kein flatterhafter Teenager. Er erinnerte sich daran, wie sie sich ihm im Wald entgegengestellt hatte. Sie hatte mehr Mumm als die meisten seiner Soldaten im Krieg.
Aber was war mit ihrer Geschichte? Sie war natürlich absurd, und trotzdem beunruhigte sie Nguyen in einer Weise, die er nicht genauer beschreiben konnte. Vor langer Zeit schon hatte er gelernt, seiner Intuition zu vertrauen, auch wenn es gegen alle Vernunft schien. Aber was sollte er in diesem Fall tun? Da war der Junge, den Mary umzubringen versucht hatte – Jim Kline –, und vielleicht war er ein Mörder. Nguyen hatte Jim selbst verhört und hatte festgestellt, daß er ihn nicht mochte. Der Junge hatte etwas zu verbergen. Die Art, wie seine Blicke ständig nach rechts und links schossen, als Nguyen ihn befragte, hatte ihn an ein gefangenes Tier erinnert. Jim war irgendeines Verbrechens schuldig, dessen war Nguyen sich sicher. Aber er hatte nicht genügend Leute, um einen von ihnen dafür abzustellen, Jim Tag und Nacht zu überwachen. Außerdem bezweifelte er, daß es legal war, dem Jungen nachzuspionieren.
Nguyen war davon beeindruckt, daß Angela die Geschichte ihrer Freundin nicht ausgeplaudert hatte. Diese beiden Mädchen waren Freundinnen; daran hatten auch die Ereignisse der vergangenen Nacht nichts geändert. Vielleicht konnte aus dieser Freundschaft noch Nutzen gezogen werden.
Als das
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