Legende der Angst
sie sich an den Küchentisch setzte, um die Zeitung zu lesen. Über Marys blutige Tat wurde immer noch auf der Titelseite berichtet. Angela hatte bei der Polizei darum gebeten, ihren Namen nicht im Zusammenhang mit der ganzen Sache zu erwähnen, und so hatte sie es bisher vermeiden können, von den Medien als Heldin hochgespielt zu werden. Sie war am Montag nicht zur Schule gegangen und hatte keine Ahnung, wie sich die anderen in der Klasse ihr gegenüber verhalten würden. Sie hatte keine Lust, als Heldin gefeiert zu werden, schon gar nicht auf Kosten ihrer besten Freundin und zweier jetzt toter Klassenkameraden.
Angela hatte den Bericht über Mary noch nicht zu Ende gelesen, als jemand an die Tür klopfte. Es war Kevin Christopher, ein Junge aus ihrer Klasse, der ein Stück weiter die Straße rauf wohnte. Nach Mary war er der beste Freund, den sie in dem nicht eben großen Ort Point hatte.
Sie hätten vielleicht sogar noch enger befreundet sein können, wenn er sich nicht gleich auf den ersten Blick in Angela verliebt hätte, als sie sich zu Anfang des Sommers begegnet waren. Er hatte kein Geheimnis daraus gemacht, wie toll er sie fand. Das hatte Angela geschmeichelt, doch gleichzeitig hatte sie sich dabei unwohl gefühlt. Kevin war klein, um die einsfünfundsechzig, mit einem wirren Wust schwarzer Haare und einem Grinsen, das sich über sein ganzes Gesicht zog, wenn sein Lieblingsthema auch nur im entferntesten angeschnitten wurde. Bei diesem Thema handelte es sich um Sex und noch mal Sex. Angela war jedoch davon überzeugt, daß Kevin außer in seiner Phantasie noch keine Erfahrungen auf diesem Gebiet vorzuweisen hatte. Er war zu sehr der Meßdienertyp, er konnte auch nie böse und gemein sein, nicht einmal, wenn er es ernstlich versuchte. Er kann es nicht, weil er ganz einfach keine Ahnung davon hat, wie man es macht, war Angelas Meinung.
Nicht, daß sie über praktische Kenntnisse auf diesem Gebiet verfügte. Sie hätten wohl ein großartiges Paar abgegeben, beide noch Jungfrau, doch bemüht, so zu tun, als hätten sie die Erde einmal auf dem Wasserbett umkreist. Sie mochte Kevin sehr. Er brachte sie zum Lachen, und so hätte sie ihn das vergangene Wochenende ganz sicher brauchen können. Doch nach dem Abend der Party hatte sie ihn nicht mehr gesehen und auch keine Ahnung gehabt, wo er steckte.
»Bin ich zu spät?« fragte er, als sie die Tür öffnete.
Sie lächelte, doch es war ein gezwungenes Lächeln. Die Begräbnisse und alles, was damit zusammenhing, hatten sie mehr mitgenommen, als ihr bewußt gewesen war. »Du kommst gerade richtig. Komm rein und zieh dich aus. Laß es uns schnell tun. Mein Mann wird in ein paar Minuten zurück sein.«
Kevin trat eilig durch die Tür. »Wo ist er?«
»Bei deiner Frau.«
»So ein mieser Schuft.«
»Ja. Wie hättest du es heute gern?«
»Hart und schnell«, antwortete er.
»Können wir es nicht doch lieber anders machen?« fragte sie. Als er sie packte, lachte sie und schob ihn von sich. Sie war nicht in der Stimmung für weitere Späße. »Beruhige dich, Junge. Mein Mann ist nicht weg, er schläft gleich nebenan.«
Er heuchelte Enttäuschung und sagte: »Na, dann vielleicht das nächste Mal.«
»Ja, vielleicht«, stimmte sie zu. Wann immer sie sich sahen, alberten sie auf diese Weise herum. Es war längst zu einem Ritual geworden. Manchmal allerdings fürchtete sie, seine Gefühle zu verletzen, weil sie jedesmal diejenige war, die ihn auf den Boden zurückholen mußte. Sie wünschte, sich in Kevin verlieben zu können – sie hätten sicher eine Menge Spaß miteinander haben können. Er war ein ganz hübscher Kerl, aber leider machte er sie nun einmal nicht an.
Jedenfalls nicht in der Art wie Jim Kline.
Aber darüber wird erst gar nicht weiter nachgedacht. Er ist schließlich ein Monster, erinnerst du dich? Er verspeist arme, ahnungslose Besucher dieser Stadt.
Mary hatte eine krankhafte Phantasie. Vielleicht konnte sie, während sie im Gefängnis war, Horrorromane schreiben und damit ein Vermögen verdienen.
»A und W«, sagte Kevin und drückte sie kurz. »Wie geht’s dir?« Er nannte sie – Angela Warner – oft in Anlehnung an sein Lieblingsbier. Bevor sie antworten konnte, hatte er sie schon losgelassen, die Küche durchquert und sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen lassen. »Schön, wieder zu Hause zu sein«, meinte er.
Das Holzhaus ihres Großvaters hatte zwei Stockwerke. Viele der beim Bau verwendeten Balken lagen frei, überall sah man
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