Legende der Angst
allerdings, daß sie helfen würden. Und das taten sie auch nicht.
Es war schon komisch, daß sie gerade zur Point High fuhr, um die leeren Wasserkanister zu stehlen. Die Dozenten tranken nur gekauftes Wasser. Vielleicht essen sie deshalb so wenig rohes Fleisch, grübelte Angela. Wie auch immer, sie hatte die Kanister in der Nähe der Tür zu den Jungenduschen gesehen. Da hatte ein ganzer Stapel gestanden, wenn sie sich richtig erinnerte. Der Bereich, den der Wasserlieferant zu versorgen hatte, mußte riesig sein, so daß er nur hin und wieder vorbeikam.
Eine Viertelstunde später mußte Angela feststellen, daß ihr ›ganzer Stapel‹ aus genau acht leeren Kanistern bestand. Das machte hundertsechzig Liter Benzin. Eine ganze Menge, aber würde es ausreichen? Wer zur Hölle mochte das wissen? Sie hatte sich auf wenigstens zweihundert Liter versteift. Es war inzwischen fast vier – keine Zeit mehr, lange zu fackeln. Sie hatte nur bis fünf Zeit, das Einkaufszentrum in Balton zu erreichen und dort die Sportabteilung aufzusuchen, in der sie die Munition bekommen konnte. Auf dem Heimweg würde sie sich Gedanken darüber machen, woher sie noch mehr Kanister bekommen konnte.
Um zwanzig nach fünf hatte sie das Einkaufszentrum erreicht. Die Munition war hinter dem Tresen gestapelt. Angela hatte sich eine schlechte Woche ausgesucht, um nach so etwas zu verlangen. Immerhin hatte nur wenige Tage zuvor ein Mädchen ihres Alters zwei Menschen mit einem Gewehr niedergestreckt. Der Mann hinter dem Verkaufstresen sah aus, als wäre er eben erst aus der Army entlassen worden. Er hatte einen blonden Igelschnitt, breite Schultern und schien einen Stock verschluckt zu haben, der ihn die ganze Zeit in Habachtstellung stehen ließ. Er wollte wissen, was sie mit den zwanzig Schachteln Munition vorhatte.
»Die sind für meinen Großvater«, antwortete sie.
»Ist er hier auch irgendwo?« fragte der Mann.
»Nein.«
»Was will er denn schießen?«
»Oh, hauptsächlich macht er Schießübungen auf eine Zielscheibe. Gibt es irgendein Problem? Ich bin achtzehn. Ich habe einen Ausweis dabei.«
»Den würde ich gerne sehen«, erwiderte der Mann. Angela reichte ihm ihren Führerschein, den er eingehend studierte. Die Angaben schienen ihn zu irritieren. »Du kommst aus Chicago?«
»Ich bin letzten Juni hierher gezogen«, erklärte sie.
Der Mann runzelte die Stirn. Dann lächelte er plötzlich. »Hey, ist dein Großvater Mike Warner?«
Sie erwiderte das Lächeln, allerdings einreichte es bei ihr die Augen nicht. »Ja. Kennen Sie ihn?«
Der Mann schlug sich auf den Oberschenkel. »Teufel, er ist eine Zeitlang mit meiner Schwester ausgegangen.«
Angela sah ihn zweifelnd an. »Mit Ihrer Schwester? Wie alt ist sie denn?« Der Mann selbst konnte nicht älter als dreißig sein.
»Sie ist jünger als ich.« Er lachte leise. »Er war nichtsdestotrotz ein großartiger Kerl. Sie hat ihn wirklich gemocht. Wie geht es ihm?«
Sie schluckte. »Oh, er hat immer noch die gleichen Maschen und Tricks drauf.«
»Und er hat sich ein Gewehr gekauft? Ich glaube nicht, daß er schon eins hatte, als er sich mit Dorothy getroffen hat.«
»Er hat es auch noch nicht lange.«
Der Mann begann, die Schachteln auf dem Tresen zu stapeln. Er schien keinerlei Bedenken mehr zu haben, was sie betraf. Zwanzig Schachteln. »Grüß ihn von mir. Ich heiße Sam. Richte ihm aus, daß Dorothy immer noch sagt, daß er der Beste war.«
Angela senkte den Kopf. »Werde ich machen.«
Bevor Sam abrechnete, verlangte sie noch dreißig Meter Seil, eine Tube Klebstoff und ein rasierklingenscharfes Jagdmesser. Sie hatte zu Hause nichts, womit sie die Patronenhülsen aufschneiden konnte; die Messer in der Küche waren alle stumpf. Außerdem, so überlegte sie, konnte ihr das Messer vielleicht auch noch in anderer Hinsicht von Nutzen sein.
Angela kurvte noch etwa eine halbe Stunde durch Balton, konnte jedoch keine weiteren Zwanzig-Liter-Wasserkanister mehr auftreiben. In einem Supermarkt kaufte sie vier Zehn-Liter-Kanister – die fast überall zu erhalten waren – und legte einen Kunststofftrichter dazu. Sie wußte jetzt, woher sie genug Benzin bekommen würde.
In Point gab es drei Tankstellen. Ihr Camry hatte einen Fünfzig-Liter-Tank. Sie würde volltanken, nach Hause fahren und mit Hilfe des Schlauches das Benzin in die Kanister umfüllen. Sie würde nur soviel im Tank belassen, wie sie benötigte, um zur nächsten Tankstelle zu gelangen. Zweihundert Liter – vier
Weitere Kostenlose Bücher