Legende der Angst
Kenny –, und er war kein gerissener alter Fuchs wie Martin. Nur wenige Polizisten erwiesen sich indessen als so stark, wie Martin es gewesen war, auch nicht nach zwanzig Jahren im Dienst. Und nicht einmal Martin war stark genug gewesen, seine Ermordung zu verhindern. Nguyen fragte sich, ob er es gewesen wäre. Er bezweifelte es.
Nguyen wußte nicht, was ihn noch einmal zum Lagerhaus getrieben hatte. Er war schon tags zuvor dort gewesen – am Samstag –, nachdem Angela und ihr Freund ihn auf die Bedeutung dieses Ortes hingewiesen hatten. Er hatte das getrocknete Blut in dem Spalt im Boden gefunden, wie sie es zweifelsohne auch getan hatten. Aber anders als sie war er in der Lage gewesen, das Blut analysieren zu lassen. Es stammte von vier unterschiedlichen Personen, wie Mary gesagt hatte. Vor einer Stunde erst hatte er den Computerausdruck über den Vergleich der Blutspuren mit den Blutgruppen der vier als vermißt Gemeldeten erhalten – zwei Männer und zwei Frauen hatten sich auf dem Weg zur Westküste befunden und nur in Balton angehalten, um etwas zu trinken. Nguyen versuchte sich daran zu erinnern, ob Mary etwas davon gesagt hatte, daß Jim nur Leuten auflauerte, die von außerhalb waren. Sie hatte auch in anderer Hinsicht so bemerkenswert präzise Angaben gemacht – rückwirkend betrachtet.
Aber andererseits hatte Mary auch behauptet, daß sie es hier mit Monstern zu tun hatten.
»Wenn Sie hier drin stehen und schreien würden, Kenny«, sagte Nguyen, »denken Sie, daß Sie dann draußen jemand hören könnte?«
Kenny trat von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich sichtlich unwohl. Er hatte bereits angemerkt, daß der Ort für ihn voller böser Schwingungen war. Nguyen wußte nicht viel über Schwingungen, aber er wußte genau, wann er jemanden nicht mochte, und Jim Kline hatte er vom ersten Augenblick an gehaßt. Wenn dieser Junge Martin getötet hatte, dann würde er dafür bezahlen, übel bezahlen. Dafür würde Nguyen sorgen, und er würde es ganz legal aussehen lassen. Es gab da immer gewisse Möglichkeiten.
»Ich denke nicht, daß mich jemand hören würde«, antwortete Officer Kenny Williams und ließ den Blick durch die Dunkelheit ringsum schweifen. »Das ist eine ziemlich große Lagerhalle. Man müßte schon entsetzlich laut schreien.«
Nguyen kniete nieder und betastete das getrocknete Blut. Und als er das tat, wußte er plötzlich, warum er zu der Lagerhalle zurückgekehrt war. Er hatte sich noch einmal vergewissern müssen, daß das, womit er sich beschäftigte, tatsächlich Wirklichkeit war, da er seit seinem Zusammentreffen mit Angela in Marys Hütte merkwürdig benommen gewesen war. Zuerst hatte dort Martin auf dem Boden gelegen, und seine Gedärme waren ihm aus dem Bauch gequollen. Armer Mike – Nguyen kannte seinen Vornamen. Es war entsetzlich gewesen, die Fliegen über das Gesicht seines Freundes krabbeln zu sehen. Plötzlich hatte es dem Lieutenant geschienen, als habe der Krieg erst gestern stattgefunden; dabei hatte er gedacht, das alles längst hinter sich gelassen zu haben.
Dies ist schlimmer als alles, was in Vietnam passiert ist. Dort hatten die Feinde Namen. Man konnte sie kommen sehen. Sie waren Menschen wie alle anderen auch.
Dann hatte er Mary tot in Angelas Armen liegen sehen; wie es schien, hatte sie Selbstmord begangen. Das hatte die Situation noch unwirklicher erscheinen lassen. Aber Nguyen hätte mit all dem fertig werden können, trotz des Schmerzes, der ihn in diesem Moment erfüllte. Doch da war Angela gewesen. Angela hatte ihre Freundin nicht einfach nur in den Armen gehalten, sie hatte sie berührt. Sie hatte das Blut von Marys tiefem Einschnitt am Hals abgewischt und dann die Finger abgeleckt. Das war zuviel gewesen.
»Gütiger Gott«, flüsterte Nguyen. Er fühlte sich krank, hatte Angst. Er hatte noch nie zuvor solche Angst gehabt, nicht einmal in der Hitze des Gefechts, wenn ihm Gewehrkugeln um den Kopf geschwirrt waren. Angela hatte von Mary abgelassen, sich erhoben und ihm in die Augen gesehen, und Nguyen war sich vorgekommen, als sei er von einem Aasgeier hypnotisiert worden. Es war nicht zu fassen, daß er sie hatte gehen lassen. Andererseits hatte es keine Möglichkeit gegeben, sie zurückzuhalten.
»Hören Sie auf, mir zu folgen. Lassen Sie mich tun, was ich tun muß. In dem Moment, in dem Sie glauben zu verstehen, was vor sich geht, werden Sie tot sein.«
Er wußte immer noch nicht genug, und an diesem Punkt fragte er sich ernstlich, ob er
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