Legende der Angst
entschlossen und schnell ins Geschehen gestürzt, doch jetzt konnte sie sehen, daß sein rechtes Bein irgendwann in der Vergangenheit eine Verwundung davongetragen haben mußte. Das Bein wirkte sogar kürzer als das linke. Er schien ihre Gedanken zu erraten, sagte jedoch nichts. Angela spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, und beeilte sich, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken.
»Sie muß sehr stolz auf Sie sein«, sagte sie.
»Sie ist eine stolze Lady«, stimmte Nguyen zu. Er trat einige Schritte vor und reichte Angela die Hand. »Ich bin froh, daß es Ihnen möglich war, herzukommen, Angela.« Sie schüttelten einander kurz die Hände; seine waren warm. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Entschuldigen Sie, daß ich Sie letzte Nacht in der Aufregung einfach geduzt habe. Aber darf ich Sie weiter Angela nennen?«
»Das ist mir recht. Mir ist alles recht. Ich freue mich, daß ich noch am Leben bin«, bemerkte sie und setzte sich auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er nahm ihr gegenüber Platz. Er wirkte entspannt, hatte jedoch eindeutig alles unter Kontrolle. Sie erinnerte sich wieder daran, wie er Mary die Pistole aus der Hand geschossen hatte. Nein, dieser Mann war alles andere als ein einfacher Gegner. »Ich habe mich dafür noch gar nicht bei Ihnen bedankt«, fügte sie hinzu.
»Warum sind Sie den beiden nachgefahren, obwohl ich Ihnen doch gesagt hatte, daß Sie beim Haus warten sollten?« fragte er, nicht vorwurfsvoll, sondern neugierig.
»Mary ist meine Freundin.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte ja keine Ahnung, was passieren würde.«
»Hatten Sie Angst, sie könne bei der ganzen Sache umkommen?«
»Ja.«
Nguyen nickte. »Fast wäre das ja auch der Fall gewesen.« Er dachte eine Weile nach. »Sie haben eine Menge Mut bewiesen. Wie eng sind Sie beide befreundet?«
»Ich habe sie erst im Juni kennengelernt, als ich hierher gezogen bin. Seither haben wir uns immer mehrmals die Woche getroffen. Ich würde sagen, wir sind ziemlich gut befreundet. Wie geht es ihr? Ich meine, was ist mit ihrem Kopf und mit ihrer Hand?«
»Sie hat die Nacht im Krankenhaus verbracht, aber jetzt ist sie in Haft. Die Ärzte sagen, daß sie eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hat. Die Hand hat man ihr verbunden.« Nguyen legte eine Pause ein und seufzte. »Aber ich weiß, daß irgend etwas ganz und gar nicht mit ihr in Ordnung ist. Haben Sie eine Ahnung, warum sie das alles getan hat?«
»Nein.«
»Überhaupt keine?«
Angela hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände. Sie hatte einen Kloß im Hals, der auch nicht verschwand, wenn sie schluckte. Sie hatte in der vergangenen Nacht nicht gut geschlafen – tatsächlich hatte sie das Gefühl, kein Auge zugetan zu haben. Gewehre und Blut und Eingeweide – die Bilder hatten sich in ihre Seele gebrannt. Selbst wenn sie irgendwann achtzig sein würde, würde sie sich wohl noch an diese Schreckensvisionen erinnern.
»Ich weiß nicht was ich dazu sagen soll«, entgegnete Angela. »In den letzten Tagen war Mary ziemlich still, aber sie hat mir nicht anvertraut, worüber sie sich Gedanken machte.«
»Der Junge, den sie gejagt hat – Jim Kline. Er ist ihr fester Freund, oder?«
»Ja. Haben Sie heute morgen schon mit ihm gesprochen?«
»Ja.« Nguyen ließ sich nicht weiter zu diesem Thema aus. Vielleicht wollte er Jims und ihre Geschichte miteinander vergleichen – überprüfen, ob sie übereinstimmten.
»Was ist mit seinem Bein?« wollte sie wissen.
»Alles soweit in Ordnung. Es wird ihm bald schon wieder bessergehen. Wie sind Jim und Mary vorgestern abend miteinander ausgekommen?«
»Gut, denke ich. Das heißt, ich habe schon bemerkt, daß Mary sich in letzter Zeit irgendwie mehr von ihm zurückgezogen hat. Aber sie hat nie mit jemandem darüber geredet, daß etwas nicht stimme oder daß sie wütend auf ihn sei.«
»In welchem Verhältnis stand sie zu den beiden, die sie erschossen hat: Kathy Baker und Todd Green?« fragte Nguyen weiter.
»Soweit ich weiß, kannten sie einander kaum.«
»Aber sie hatte es gezielt auf diese beiden abgesehen. Stimmt das?«
»Ja. Das ist ganz sicher. Und dann war sie hinter Jim her.«
»Hatten Sie den Eindruck, daß es sonst noch jemanden gab, den sie aus dem Weg räumen wollte?«
»Nein«, antwortete Angela.
»Wo ist die Verbindung zwischen Jim und Todd und Kathy? Was hatten sie gemeinsam?«
»Ich habe mir letzte Nacht dieselbe Frage gestellt«, sagte Angela. »Jim und Todd sind beide im
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