Legende der Angst
Schreibtisch zu. Jim wandte sich um und folgte ihr, war nicht mehr weit von ihr entfernt.
»Es sieht aus wie ein KAtuu«, stellte er fest.
»Richtig.«
»Wo hast du das her?«
»Was her?«
»Wer hat dir das Amulett gegeben?« fragte er.
Sie sah auf das Amulett hinab; sie berührte die goldene Figur und schickte ein stummes Dankgebet zu Glänzender Feder. Wenn sie schon sterben würde, würde sie dies wenigstens als Mensch tun.
»Ein Indianer«, beantwortete sie Jims Frage.
»Wann hat er dir das gegeben?« Er war jetzt ganz nah, vielleicht noch zwei Schritte entfernt.
»Gerade eben«, sagte sie.
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Jim. »Wo ist dieser Indianer?«
»Ich werde es dir zeigen.« Sie wandte sich dem Schrank zu, ging nur Zentimeter an der Schreibtischschublade vorbei. Aber sie griff nicht nach dem Messer – noch nicht. Eine Hand an der Kleiderschranktür, sagte sie: »Er versteckt sich hier drin.«
Jim war sofort an ihrer Seite und riß die Tür auf. In derselben Sekunde trat Angela einen Schritt zurück, zog die Schreibtischschublade auf und umschloß den Messerschaft mit der rechten Hand. Die im Schrank gestapelten Kanister lenkten Jim gerade lange genug ab, um ihr Zeit zu geben, den vorher durchdachten Plan auszuführen. Aber Jim hatte Ohren, und Jim hatte Reflexe. Er wirbelte zu ihr herum, als sie das Messer hob und die rasiermesserscharfe Klinge seitlich in seinen Hals rammte.
»Hilfe!« schrie er, als eine Blutfontäne hervorschoß und sich über seine Schulter ergoß. Das Blut war dunkler, als es eigentlich hätte sein sollen; es zeigte ganz eindeutig einen Grünstich. Das Messer steckte noch in seinem Hals. Er hob beide Hände, um es aus der Wunde zu ziehen, während er einen Schritt zurücktaumelte. Angela holte mit ihrem Bein aus, und mit der Wucht ihrer neuerworbenen Kräfte trat sie ihn mitten in die Weichteile. Jim ächzte und krümmte sich, während das Blut aus der Wunde am Hals auf den Boden tropfte.
»Bastard!« fluchte Angela.
Sie rannte zur Schlafzimmertür und knallte sie zu. Sie kamen bereits die Treppe herauf. Angela drehte den Schlüssel im Schloß. Sie glaubte nicht, daß die Tür sie lange würde aufhalten können, und sie hatte recht mit dieser Vermutung. Als sie sich zum erstenmal gegen das Hindernis warfen, splitterte das Holz.
Angela eilte zurück zum Schrank. Um dorthin zu gelangen, mußte sie über Jim hinwegspringen, der zu Boden gestürzt war. Er machte den schwachen Versuch, die Hand zu heben und sie am Bein zu packen, doch er griff ins Leere. Seine Kräfte verließen ihn zusehends. Sein Blut bildete eine Lache rund um ihn, und einen kurzen Moment lang fragte sich Angela, wie viele arme Seelen hatten sterben und Jim ihr Blut geben müssen, um ihn jetzt in einer so seltsamen dunklen Flüssigkeit liegen zu lassen.
»Hilfe!« krächzte er.
Erneut wurde die Türfüllung erschüttert. Sie würden innerhalb weniger Sekunden im Zimmer sein.
Angela öffnete die Kleiderschranktür und griff nach dem obersten Kanister. Sie legte ihn vor sich auf den Boden, sprang hoch und landete mit beiden Füßen darauf. Der Kanister platzte; Benzin verteilte sich auf dem Boden, spritzte in den Schrank und durchnäßte die Kleidungsstücke, die um die anderen Kanister verstreut lagen. Und es tränkte den Rand ihres Bademantels. Angela riß ihre linke Hand hoch und betätigte das Feuerzeug. Die rotgelbe Flamme spiegelte sich wie eine kleine Sonne in ihren Augen. Angela blickte auf Jim hinab. Er sah zu ihr auf.
»Ihr habt einhunderttausend Jahre darauf gewartet, Rache zu üben«, sagte sie. »Ihr habt eure Zeit verschwendet. Ihr seid erledigt. Ihr seid nur ein Haufen toter Schädel aus einer toten Welt.« Sie hielt kurz inne und lächelte boshaft. »Ich hoffe, du leidest Höllenqualen, wenn du stirbst.«
Angela beugte sich vor und hielt die Flamme an den fast leeren Kanister. Das Benzin fing sofort Feuer; fast im gleichen Moment schon hatten die Flammen den Kleiderschrank erreicht, leckten an ihren Sachen und an den Kanistern. Ihr Bademantel hatte auch Feuer gefangen, aber Angela versuchte gar nicht erst, es zu ersticken. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer erbebte; jeden Augenblick würde die Barriere aus Holz der Gewalt einer wütenden Faust erliegen. Angela wirbelte herum und rannte auf den Balkon zu.
Es war ihr Glück, daß sie die Tür offen gelassen hatte. Angela hatte kaum die Schwelle überschritten, als zwei Dinge fast gleichzeitig passierten: Die Schlafzimmertür flog
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