Legenden d. Albae (epub)
genau, auch die Feinheiten, die kleinen Fältchen über den Gelenken.
Meine Sehkraft wird mit jedem Sonnenaufgang besser
!
Auf kurze Entfernung konnte sie mit der einen Seite fast wie früher sehen, nur größere Strecken bereiteten ihr Schwierigkeiten. Dennoch behielt sie ihre Fortschritte nach wie vor für sich und trug weiterhin die Binde aus schwarzer Spitze.
Ihre Arbeiten wurden dementsprechend immer ausgefeilter, und die geritzten Bilder versetzten Timānsor in Verzückung. Er nahm – wie der Rest des Hauses – an, dass es sich um das Werk einer Blinden handelte. Da er sie um ihren Lohn und ihr Ansehen betrog, fühlte sich Raleeha wegen ihres Betrugs nicht schuldig.
Tarlesa kann mich nicht mehr verraten.
Sie nahm das Federmesser auf und führte die letzten Schnitte an dem kleinen Porträt zu Ende. Es war Timānris’ Antlitz, das siezuvor abgetastet hatte, um angeblich die Konturen erfassen und umsetzen zu können.
Es wäre so einfach gewesen, die Daumen tief in die verhassten Augen der Rivalin zu stechen und sie zu töten
!,
sagte das Stimmchen in ihr beleidigt und vorwurfsvoll.
Ein heißer Schauder rann ihren Rücken entlang.
Aber das hätte nichts gebracht,
antwortete die Vernunft. Sie würde des Mordes angeklagt werden, Sinthoras würde sie verachten, und vielleicht würde sogar ihrem Bruder etwas angetan werden. Nein, es durfte kein Verdacht auf sie fallen.
»Seid still!« Raleeha atmete tief ein, und es wurde ruhig in ihrem Kopf. Sie legte das Federmesser weg und strich die dünnen Pergamentfetzchen zur Seite. Es war ihr äußerst gut gelungen. Lediglich münzgroß, doch so genau, wie die Albin im wahren Leben aussah, auch wenn die Wirkung eines Albinnengesichts sich nicht genau übertragen ließ. Timānris würde begeistert sein und es Sinthoras schenken.
Er wird es um seinen Hals an seinem Herzen tragen.
Raleeha fuhr mit dem kleinen Finger die Rillen nach, die ihr eigenes Gesicht andeuteten. Niemandem würde es auffallen, nur sie würde es wissen. Sie seufzte, hob das Pergament auf und drückte ihm einen langen, innigen Kuss auf.
Es klopfte an der Tür. »Bist du da, Raleeha?« Das war Timānris’ Stimme. Sicher wollte sie etwas von ihr.
Sie legte ihr Werk hin, erhob sich und wandte sich zum Eingang. »Ja, Herrin. Kommt bitte herein. Weder müsst Ihr klopfen noch fragen. Ich bin Eure Sklavin.«
Die Albin kam herein und lächelte, obwohl sie dachte, dass Raleeha es nicht sehen konnte. Sie war stets freundlich zu ihr. »Du weißt, dass du nicht meine Sklavin bist, auch wenn mein Vater etwas anderes behauptet. Du sagst das jedes Mal absichtlich, um mich zu ärgern und mich deinen Verdruss spüren zu lassen«, maßregelte sie, ohne es ernst zu meinen. Sie schritt an ihrvorbei und sah auf das schräge Arbeitspult. »Oh«, entfuhr es ihr. »Bei Samusin! Das ist vollkommen! Du hast mich besser getroffen als alle Zeichner, die es je versucht haben.« Sie schüttelte den Kopf und lachte dabei, nahm das Pergament auf. »Eine blinde Menschenfrau überflügelt die Albae. Wir werden dir, falls herauskommt, wer hinter diesen Kunstwerken steckt, albisches Blut andichten müssen, sonst stürzen sich unsere Zeichner noch reihenweise in den Tod: Welch eine Schmach! Von einer Menschenfrau besiegt!« Wieder lachte die Albin.
»Nein, mir fehlt vieles, um mich mit der albischen Kunst messen zu können«, hielt Raleeha dagegen. Nicht, um weiteres Lob zu ergattern, sondern weil es stimmte. »Ich kann das Einfache recht gut, aber wenn ich bedenke, was ich sehe …« Sie stockte. »Ich meinte, was ich früher sah, so ist mein Schaffen nichts weiter als das Werk eines Kindes.«
»Ach, schweig«, sagte Timānris in scherzhaftem Ton. »Komm mit.« Sie eilte zur Tür, und Raleeha folgte ihr, immer ein Zögern vortäuschend, um als Blinde angesehen zu werden.
Sie durchquerten das Anwesen, das in jeder Nische, an jeder Wand, sogar an der Decke und auf den Fußböden Kunstgegenstände aufwies. Bilder, Skulpturen, Mischformen, manchmal wusste Raleeha auch überhaupt nicht, was sie betrachtete. Abstrakte Dinge, doch stets versehen mit Vergänglichkeit und Schönheit gleichermaßen.
Sie gelangten in den Garten, in dem sich Timānsor regelrecht verausgabt hatte, um der Natur seinen Willen aufzuzwingen. Jeder Busch und jeder Baum waren in Form geschnitten, eingefärbt und mit Steinen besetzt worden. Er hatte künstliches Gras aus den weichen Borsten von Tieren und Bestien erschaffen und Inseln damit angelegt oder
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